Das Luzifer Evangelium
verfolgte. Eine Heerschar von Dämonen und Teufeln hatte sich auf ihn gestürzt, ihn gelockt, bedroht, verhöhnt und ausgelacht. Schreiend, brüllend, fauchend und dann wieder einschmeichelnd waren sie durch seine Fieberfantasien gezogen. Noch heute, mehr als dreißig Jahre später, wurde er regelmäßig von denselben Bildern und Lauten heimgesucht, denselben Gerüchen und dem immer wiederkehrenden Gefühl des nahenden Endes. Nachts schreckte er schweißgebadet aus Albträumen auf, die ihm so wirklich und real erschienen wie die schlafende Luciana neben ihm oder der Mond hinter der Gardine. Diese Träume zwangen ihn häufig aus dem Bett und in die Küche, wo er sich eine warme Milch mit Honig machte, während er versuchte, die Wahnvorstellungen aus seinem Kopf zu bekommen. Das ist Wahnsinn, Giovanni, der reinste Wahnsinn . Sogar am helllichten Tage kam es vor, dass er Dämonen erblickte, in kurzen Momenten auf der Straße, auf den Fluren der Universität, hinter einem Baum im Park oder in einem Brunnen auf einer von Touristen bevölkerten Piazza. Er hatte sogar schon erwogen, einen Psychiater um Hilfe zu bitten. Aber das ging ihm zu weit. Auch wenn er im psychischen Sinne an Dämonen glaubte, konnte er sie sich nicht als physische Wesen vorstellen. Gleichwohl hatten sie eine obskure Macht über ihn, wie eine Phobie oder ein Fetisch, von der er sich zu befreien versuchte oder die er zumindest verdrängen wollte. Die Fantasien seiner Kindheit waren ihm eingebrannt, als hätte die Krankheit in ihm die Tür zu einer anderen Wirklichkeit aufgestoßen.
»Du solltest dich mal wieder rasieren«, sagte Luciana.
»Findest du?«
»Und dir die Haare schneiden lassen.«
Er fuhr mit den Fingern durch die Haare an seiner Schläfe. Wie sein Vater war er früh ergraut.
»Und du, mein schöner Engel, musst nichts, aber auch gar nichts tun, um perfekt auszusehen.« Er wollte einen Spaß machen, ihr eine barocke Liebeserklärung machen, hörte aber selbst, wie dumm und falsch sein Satz daherkam. Sie lächelte. Wenn es denn ein Lächeln war.
Er hatte Luciana getroffen, als sie achtzehn Jahre alt gewesen war und er zehn Jahre älter. Sie war ein zartgliedriges Mädchen gewesen, das ihn vage an einen Engel erinnert hatte, den er auf einem Gemälde von Botticelli gesehen hatte. Er war viel zu alt für sie gewesen und sie viel zu schön für ihn. Trotzdem hatten sie sich ineinander verliebt und ein Jahr später mit einer romantischen Zeremonie auf Capri geheiratet. Das Gefühl, sie nicht zu verdienen, war nie aus seinem Bewusstsein gewichen. Sie war viel zu schön, viel zu gewandt: Luciana war geschaffen für scharfsinnige Männer mit schnellen Booten und großem Weinkeller. Er hatte schon lange das Gefühl, sie zu langweilen. Sie hatte so viele Träume, von denen er ihr nicht einen einzigen erfüllen konnte. Sie wollte die Welt kennenlernen, wollte malen, ihren Frühstückskaffee auf einer Terrasse mit Blick auf die Côte d’Azur trinken und am Rande eines Pools hinter einer Wand aus Feigenbäumen Liebe machen.
Nach dem Frühstück räumten sie den Tisch ab, ließen den Abwasch aber stehen. Silvana zog sich in ihrem Zimmer an, während sie mit Lo-Lo den bevorstehenden Tag besprach. Giovanni drehte mit Bella rasch eine Runde um den Block. Als er zurückkam, waren die Frauen bereits auf dem Weg aus dem Haus. Luciana brachte Silvana in der Regel zur Schule, ehe sie mit der Straßenbahn in das Maklerbüro fuhr, in dem sie arbeitete.
»Vergiss nicht, ich komme spät«, sagte sie noch einmal, bevor sie mit ihrer Tochter davonhastete.
»Ja, ich weiß«, antwortete Giovanni. »L’Aquila.«
*
Wie jeden Morgen fuhr er mit dem Fahrrad zur Universität, die nur einen Steinwurf von der Piazza Venezia entfernt lag. Luciana sah in seinen Fahrradtouren einen unterdrückten, nie enden wollenden Selbstmordversuch. Doch durch den morgendlichen Stoßverkehr zu radeln, gab ihm paradoxerweise ein Gefühl von Ruhe und Unverletzlichkeit. Für die Strecke bis zur Gregoriana-Universität brauchte er exakt siebzehn Minuten, was in etwa der Zeit entsprach, die seine Auto fahrenden Kollegen brauchten, um in erträglicher Nähe zur Fakultät, den verschiedenen Instituten und Bibliotheken einen Parkplatz zu finden. Die theologische Fakultät, in der Giovanni Nobile arbeitete, war eine der größten der Welt. Hier waren die weltweit führenden Experten für zum Teil sehr spezifische theologische Themen versammelt. Auch er selbst hatte sich – aus schrecklich
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