Das Luzifer Evangelium
jeden Fall war nirgendwo ein Unfall passiert.
Er war so sicher gewesen, sie zu treffen. Hatte sich vorgestellt, wie sie auf ihn zugetanzt kam und ihm sagte, sie habe etwas zu lange in ein Schaufenster geschaut oder dass eine Freundin ein unwiderstehliches Himmel-und-Hölle-Feld auf den Bürgersteig gezeichnet hatte. Irgendeine Erklärung, die im Nachhinein so selbstverständlich und einleuchtend war, dass Luciana und er über ihre Sorge lachen würden. Wo also konnte sie sein? An der Schule angekommen, versuchte er die schweren Türen zu öffnen, aber sie waren verschlossen. Hatten die Lehrer sie unabsichtlich im Klassenzimmer eingeschlossen? Vielleicht steckte sie hinter einer verklemmten Tür auf der Toilette fest. Er klingelte, aber niemand öffnete. Wann gingen die Angestellten im Sekretariat nach Hause? Gab es denn keinen Hausmeister? Einige Minuten lief er vor der Tür auf und ab und hoffte, dass jemand herauskam. Aber es kam niemand. Auf dem Rückweg ging er durch den Park. Überall waren Kinder, aber keines davon war Silvana.
*
Als er die Tür seiner Wohnung aufschloss, hoffte er, Silvana in der Küche anzutreffen, wo sie gemeinsam mit Luciana und Bella auf ihn wartete.
»Hallo?«, rief er in die Stille. »Silvana?«
Luciana begann zu weinen. Bella leckte seine Hand.
»Kann sie zu einer Freundin gegangen sein?«, fragte Giovanni.
»Welche Freundin?«
»Ich weiß es nicht – sie muss doch Freundinnen haben?«
Luciana starrte ihn mit leerem Blick an. War da ein Vorwurf in ihren Augen zu erkennen? Eine Zehnjährige hat doch Freundinnen? Sie holte die Klassenliste und überflog die Namen. Schließlich hatten sie vier Namen herausgefiltert, die sie kannte. Mit viel Wohlwollen konnte man diese Kinder vielleicht als Silvanas Freunde bezeichnen. Giovanni rief die vier nacheinander an. Er sprach mit zwei Müttern und einem Vater, der mit verständnisvoller und besorgter Stimme erklärte, dass Silvana nicht bei ihnen sei. Bei der vierten Familie ging niemand ans Telefon.
Als anderthalb Stunden vergangen waren, rief er Silvanas Klassenlehrerin an. Sie war nicht zu Hause. Danach versuchte er es im Krankenhaus. Dieser Anruf kam ihm wie Verrat vor, machte er Silvana damit doch von einem lediglich verspäteten Mädchen zu einem vermissten, oder noch schlimmer: verletzten Mädchen. Er wurde vom Empfang in die Ambulanz weitergestellt. Ein Krankenpfleger überprüfte das Verzeichnis der Neuankömmlinge. Mitfühlend sagte er, dass kein zehnjähriges Mädchen eingeliefert worden sei. Seltsamerweise verspürte Giovanni keine Erleichterung. »Rufen Sie die Polizei an«, riet der Pfleger.
Er rief die Polizei an.
»Was tust du, Giovanni?«, fragte Luciana. Ihre Stimme klang dünn und kieksig und regte ihn zu seiner Verwunderung nur noch mehr auf. »Was haben sie gesagt? War sie da?«
»Nein.«
»Und wen rufst du jetzt an?«
»Die Polizei.«
»Mein Gott, die Polizei?«
»Nur zur Sicherheit, Luciana.«
Es klickte mehrere Male – als hätte sich jemand mit Kastagnetten in die Leitung gedrängt –, bevor sich die Polizei meldete.
»Professor Nobile.« Eine kräftige, mündige Stimme. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
Es vergingen einige Sekunden, bis er begriff, dass etwas nicht stimmte. Die Polizei konnte nicht sehen, von welchem Anschluss der Anruf kam, und noch weniger, wer der Anrufer war.
»Woher wissen Sie, wer ich bin?«
»Silvana geht es gut.«
Eine Welle der Verwirrung schwappte über ihn hinweg, Furcht, Erleichterung, Angst, alles auf einmal … Silvana geht es gut. Die Polizei hatte Silvana in ihre Obhut genommen. Sie war sicher. In guten Händen. Aber wieso war sie bei der Polizei? Etwas musste mit ihr geschehen sein. Aber was? Mein Gott, sie ist doch wohl nicht … Er schaffte es nicht einmal, den Gedanken zu Ende zu denken. Dieses Wort, dieses Unaussprechliche. Er fingerte an seinem Schlipsknoten herum. Irgendwie war nicht genug Sauerstoff im Raum. Silvana geht es gut .
»Was ist mit ihr?«
»Giovanni?« Lucianas Stimme war nur noch ein Wispern.
»Silvana geht es gut, Professor.«
»Es geht ihr gut«, sagte er zu Luciana, die Hand auf der Sprechmuschel.
»Gott sei Dank!«
Er nahm die Hand wieder weg. »Wo ist sie? Wo kann ich sie abholen?«
»Unternehmen Sie nichts, Professor Nobile, nichts!«
»Wie meinen Sie das?«
»Rufen Sie niemanden an, sprechen Sie mit niemandem.«
»Ich verstehe nicht …«
»Keine Polizei, keine Kollegen, keine Freunde …«
Keine Polizei.
Trotz der Schwüle und
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