Das Luzifer Evangelium
weiß es nicht. Ich bin gerade dabei, das Knäuel zu entwirren. Zu verstehen.«
»Gelingt es mir, Sie zurückzulocken?« In seiner Stimme schwang ein Lachen mit. »Dieses Mal werden Sie garantiert eingelassen.«
4
Etwas verlegen öffnete die stumme Frau die Tür einen Spaltbreit und entfernte die Sicherheitskette.
»Da bin ich wieder!«, sagte ich und lächelte übertrieben freundlich. Das ist meine Art, peinliche Situationen zu überspielen.
In Dirk van Rijsewijks Wohnung einzutreten, war, wie aus der in Sonnenlicht und Fröhlichkeit badenden Wirklichkeit in eine zeitlose, im Dämmerlicht überalterter Glühbirnen schlummernde Bibliothek zu treten. Die Wände im Eingangsbereich waren vom Boden bis unter die Decke mit Büchern bedeckt. Alte, neue, dünne, dicke. Die Luft war gesättigt vom schweren Duft des Papierstaubs, von Einbandleim und Wissen. Das Wohnzimmer, das ich am Ende des Flures erahnte, erschien mir wie der Lagerraum eines überfüllten Antiquariates. Selbst in der winzigen Küche lagen noch Bücher herum.
»Tut mir leid, dass ich Sie bei meinem ersten Besuch so erschreckt habe«, sagte ich. »Und danke, dass Sie meine Karte weitergegeben haben.«
Ohne ein Wort führte sie mich durch den Flur, der unter dem Gewicht all der Bücher einzustürzen drohte, und eine schmale Treppe hinauf, deren Stufen bedenklich knarrten und ächzten.
Ich gebe zu, dass ich mir Dirk van Rijsewijk als einen finsteren Satanisten vorgestellt hatte, als diabolischen Beau mit Silbersträhnen im Haar und spitzen Nägeln, in einem lederbezogenen Ohrensessel, umgeben von schwarzen Kerzen, Katzen und halb nackten Sklavinnen, die nur auf seinen brünstigen Wink warteten.
Die Wirklichkeit war eine andere: Dirk van Rijsewijk lag in einem breiten Bett in einem Schlafzimmer, in dem es nach Kampfer und Krankheit roch. Er war ein schmächtiger, knochiger Mann, geschwächt vom Alter und dem Zahn der Zeit, der unweigerlich an ihm nagte. Seine Augen waren matt, die Haut blass. Durch den grauen Haarflaum schimmerte die Kopfhaut.
Die Gardinen waren zugezogen. Das Nachtschränkchen und der Boden vor dem Bett lagen voller Bücher und Papierstapel.
»Herr Beltø!« Er streckte mir eine knochige Hand entgegen, die an eine Vogelklaue erinnerte. Ich drückte sie. Vorsichtig. Sein Atem roch metallisch.
»Nennen Sie mich Bjørn.«
»Es tut mir leid …«, er beschrieb einen Bogen mit der Hand, »… aber ich bin nicht ganz auf dem Damm. Die Jahre haben mir meine Gesundheit gestohlen. Aber genug davon. Ich danke Ihnen, dass Sie zurückgekommen sind. Dank u .«
»Danke, dass ich kommen durfte.«
»Lassen Sie mich Ihnen zuerst Monique vorstellen.«
Monique …
Der Name von Marie-Élise Monniers Forumsseite …
Überrascht drehte ich mich um und ergriff ihre Hand. Sie war klein und warm. Als ich sie drückte, vielleicht ein wenig fest, schnitt sie eine fast unmerkliche Grimasse. Als wäre sie es nicht gewohnt, berührt zu werden.
»Sie ist stumm. Vermutlich haben Sie sich schon gewundert, weshalb sie so wortkarg ist.«
»Bjørn«, sagte ich. »Beltø. Aber das wissen Sie ja bereits.«
»Sie brauchen nicht so laut sprechen. Sie ist stumm, nicht taub.«
»Entschuldigung.«
»Im Übrigen ist sie weder zurückgeblieben noch begriffsstutzig. Im Gegenteil.« Sein Lachen explodierte in einer Hustenattacke.
Monique zog einen Notizblock aus der Brusttasche ihres Kostüms.
»Tut mir leid! Habe Sie sehr brüsk abgewiesen! Het spijt me . Verzeihen Sie«, schrieb sie verblüffend schnell. Ihre Handschrift war gefällig und gut zu lesen. Englisch und Niederländisch wechselten sich ab. Ich wartete auf eine Fortsetzung, die nicht kam.
»Völlig in Ordnung. Machen Sie sich keine Gedanken.«
Sie zog einen Stuhl für mich heran, blieb aber selbst an die Wand gelehnt stehen.
»Und was hat es nun mit diesem teuflischen Evangelium auf sich, das Sie den weiten Weg von Norwegen bis hierher gebracht hat?«, sagte Dirk van Rijsewijk.
Das klang fast wie eine Frage, war aber wohl eher als Einladung gemeint zu erzählen, was ich wusste. Als ich ihm alles gesagt hatte, saß er lange in Gedanken versunken da.
Schließlich sagte er: » Luzifers Evangelium hat mein Leben in vielerlei Hinsicht geprägt. Ich will Sie nicht mit meiner Besessenheit strapazieren. Aber mehr als alles andere auf der Welt war es mein Wunsch, alle Mysterien zu lösen, die mit diesem sogenannten Evangelium verknüpft sind. Was würde ich für dieses Wissen geben! Bedauerlicherweise
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