Das Luzifer Evangelium
erinnerte, war ein wackeliges Regal mit vergilbten Kochbüchern aus den Fünfzigerjahren. Nicht zu fassen, dachte Giovanni, dass diese Menschen eine der mächtigsten und fortschrittlichsten Kulturen der Geschichte entwickelt hatten.
Mithilfe des Kaufmanns, der als Übersetzer fungierte, erzählte der Hirte, wie er auf der Suche nach seiner Ziege in die Höhle in der Wüste gestiegen war. Doch das, was er weit hinten in der Höhle für seine Ziege gehalten hatte, hatte sich als ein länglicher Tonkrug erwiesen. Er hatte den Krug mit ans Tageslicht genommen und ihn mit fünf wohlgezielten Steinschlägen geöffnet. »Es hätten ja Gold oder Edelsteine drin sein können«, sagte er und lächelte entwaffnend. »Oder ein Dschinn.« Doch gefunden hatte er nur ein in Leder eingeschlagenes Manuskript. Auch ihm war nicht entgangen, dass der Finder der Nag-Hammadi-Texte etwas bekommen hatte, weshalb er sich an einen Antiquar in der Nachbarschaft gewendet hatte – Letzteres sagte er voller Ehrerbietung und nickte dem Kaufmann zu, der seine Worte stolz übersetzte.
»Und jetzt sitzen wir hier«, kommentierte der Kaufmann mit einer Selbstzufriedenheit, die vermuten ließ, dass er sich für das Geld bereits einen Pool bestellt hatte. Luigi und der Kaufmann waren sich vorweg über eine gewisse Summe einig geworden – eine Art Kaution –, damit Giovanni das Dokument mitnehmen und seine Authentizität prüfen konnte. Der Kaufmann überreichte Giovanni das lederne Päckchen mit dem Manuskript, und Giovanni gab ihm das Bündel Geldnoten, das dieser sogleich hingerissen zu zählen begann. Der zahnlose Hirte bekam seinen Anteil, stieß ein paar irre Laute aus und lief mit aus dem Mund hängender Zunge davon. So macht man in Ägypten also Geschäfte, dachte Giovanni.
Sein Rückflug verspätete sich, so dass er den Abend und die Nacht in Kairo verbringen musste, wo er einen überteuerten Flacon mit einem exklusiven Parfüm für Luciana und eine Horusfigur aus Alabaster für Silvana kaufte.
*
»Bella! Nein!«
Mit der Lupe in der rechten Hand und der nicht angezündeten Pfeife in der linken sah Giovanni von dem Manuskript zu dem Beagle, der draußen auf dem Flur vor seinem Büro auf dem persischen Teppich stand und ihn anbellte. Er musste nur selten laut werden, um seinem Hund die Grenzen aufzuzeigen. In der Regel betrachtete Bella die Welt mit einer beneidenswerten Gelassenheit. Weder die Sirenen der unten vorbeirasenden Einsatzfahrzeuge noch schwere Schritte auf der Treppe oder das Klingeln an der Tür weckten bei ihr irgendwelche Wachinstinkte. Giovanni war das egal. Er brauchte keinen Wachhund. Und er verabscheute Hunde, die bellten.
»Sei jetzt ruhig!«
Bella fletschte die Zähne und sah aus, als wollte sie ihm an die Gurgel gehen. Seltsam, dachte Giovanni, was ist nur mit ihr los? Die Hündin bellte noch einmal halbherzig und rollte sich dann wieder auf dem Teppich zusammen, als wären ihre Batterien am Ende. Nach einem letzten Knurren legte sie den Kopf auf die Vorderläufe.
»Gutes Tier!«
Der Text war in zwei Spalten aufgeteilt, eine mit Keilschrift, die andere mit unbekannten Schriftzeichen. Er kannte keine der beiden Sprachen. Er war aber auch weder Linguist noch Paläograf. Trotzdem war in dem Chaos der Zeichen ein gewisses Muster zu erkennen. Gefesselt von der Symmetrie, betrachtete er die gleichmäßigen Reihen. Fantastisch. Ganz einfach fantastisch. Die Jahrhunderte hatten der Schrift so gut wie gar nicht zugesetzt. Wie war das möglich? Und das Pergament? Wie war es präpariert worden, dass es nach so langer Zeit noch so weich war? Aus Respekt vor dem alten Pergament – es musste sich um eine Tierhaut handeln – unterließ er es, sich seine Pfeife anzuzünden. Er fürchtete, der Rauch könne das Pergament und die Tinte beeinflussen. Draußen im Flur begann Bella wieder unruhig zu werden, sie hob den Kopf und knurrte ihn mit gefletschten Zähnen an. Das sah ihr gar nicht ähnlich.
Er stellte das Radio an. »The Windmills of Your Mind«. Giovanni blieb sitzen und lauschte der Musik – er mochte dieses Lied – und klopfte unbewusst mit dem Fuß den Takt.
*
Gegen Nachmittag verstaute er den Schatz vorsichtig in seinem Rucksack und fuhr mit dem Fahrrad zur Universität. Dort übergab er das Manuskript dem technischen Konservator der Fakultät, Umberto Gialli. Nach einigen unglücklichen Diebstählen vor fünf Jahren – bei denen sowohl eine Abschrift der Vulgata aus dem sechsten Jahrhundert als auch eine
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