Das Luzifer Evangelium

Sie sagen, Sie wüssten, wie die Morde begangen wurden?«
    »Selbstverständlich. Aber ich möchte meinen Verdacht zuerst CC mitteilen. Dann kann er entscheiden, ob er ihn an die CIA weitergeben will oder nicht.«
    Mark setzte sich bequemer in seinem Schreibtischstuhl zurecht, der unter der Gewichtsverlagerung knarrte.
    »Ich möchte Ihnen ein wenig von der Arbeit erzählen, die wir hier betreiben. Im Gegenzug dürfen Sie jederzeit Informationen beisteuern, die mir fehlen. Ich weiß, dass Aldo und CC Ihnen von der Prophezeiung Satans Sohn und den Antichrist betreffend erzählt haben. Eine spannende Sache. Wenn auch wenig glaubwürdig. Rosemarys Baby in Reinkultur. Der Exorzist. Omen. «
    »Was hat ein CIA -Analytiker mit dem Spezialgebiet Al Quaida mit einer theologischen Theorie über Satans Sohn zu tun?«
    »Lassen Sie uns die Perspektive erweitern. Der Glaube an Satan, an Dämonen und böse Geister ist in gewissen religiösen und insbesondere fundamentalistischen Kreisen verbreitet. Trotz aller Vorbehalte steht auch etwas darüber in der Bibel, dem Koran und in anderen religiösen Texten. Entschließt sich ein gläubiger Mensch, die Heilige Schrift wörtlich zu nehmen, wie es viele tun, muss es als notwendige Konsequenz auch den Teufel und seine Dämonen geben. In einzelnen Sekten und Glaubensgemeinschaften ist die Sehnsucht nach der Endzeit, dem Armageddon, tief verankert. Eschatologie. Die Lehre vom Weltuntergang.«
    »In der altnordischen Mythologie spricht man vom Ragnarök«, schob ich ein. »Dort gingen Götter und Riesen – böse Kämpfer – aufeinander los.«
    »Ragnarök ist mit dem christlichen Armageddon verwandt – der Vorstellung vom endgültigen Kampf zwischen Gott und Satan. Keine kleine Kabbelei. Lesen Sie Johannes’ Offenbarung! Das reinste Inferno aus Hagel, Feuer, Blut, Blitz und Donner, Tod und Zerstörung. Sterne fallen vom Himmel! Da geht es wirklich ab! Religiöse Fanatiker nehmen den Text wortwörtlich – nicht als Allegorie. In vielen Religionen – nicht zuletzt im Christentum und im Islam – ist der Tag des Jüngsten Gerichts ein zentrales Fundament ihres Glaubens. Ohne das Jüngste Gericht würde das Dasein in der Luft hängen und ohne Sinn und Ziel sein. Das Jüngste Gericht ist, paradoxerweise, das ultimative Ziel der Religion.«
    »Und was hat das mit Luzifers Evangelium zu tun?«
    »Die Drăculsângeer glauben, dass Luzifers Evangelium nicht nur die Jahreszahl für das Jüngste Gericht angibt, sondern darüber hinaus auch noch den Verlauf. Was man dafür braucht, sozusagen. Eine Art eschatologische Gebrauchsanleitung. Das Problem ist bloß, dass wesentliche Details nur im dritten Teil vorkommen, den Sie besitzen, und nicht in Teil eins und zwei. Eine Formulierung im ersten Teil lautet zum Beispiel: In 1 647 000 Tagen wird die Erde nach hârga-më-gïddô-dôm wiederauferstehen. Wie ist eine solche Weissagung zu verstehen? 1 647 000 Tage, das ist eine recht präzise Zeitangabe. Luzifers Evangelium wurde vor viertausendfünfhundert Jahren niedergeschrieben. Das bedeutet, dass sich die Zeitangabe der Prophezeiung auf unsere heutige Zeit bezieht. Es kann sozusagen jeden Augenblick so weit sein. Morgen? 2012? Spätestens im Jahr 2024? Und was genau ist dieses hârga-më-gïddô-dôm ? Ist Armageddon das Resultat eines Atomkrieges im Nahen Osten? Welche Länder werden involviert sein? Iran? Irak? Pakistan? Israel? Wird ein terroristischer Anschlag den Dritten Weltkrieg auslösen? Solche und ähnliche Fragen und vagen Deutungsversuche könnte der Text beantworten. Das ist einer der Gründe, weshalb die CIA zur Jagd auf die altertümliche Handschrift hinzugezogen wurde.«
    Bevor ich eine Frage einflechten konnte, hatte er bereits wieder das Wort ergriffen.
    »Die Drăculsângeer haben den Text im Namen Satans gelesen und sind mehr als bereit, uns zur Endzeit zu verhelfen. In dem Kloster in den Karpaten haben sie nicht nur den Saal hergerichtet, in dem Satan die Hure schwängern soll, sondern auch einen Geburtsraum und ein bezauberndes Kinderzimmer, in dem der Satansbraten aufwachsen soll. Wenn es nur das wäre. Die Drăculsângeer haben wir trotz allem einigermaßen im Blick.«
    »Hängen da noch andere mit drin?«
    »Eine mit Al Quaida rivalisierende Extremistengruppe nennt sich ›Yawn al’Qijamah‹, was Jüngstes Gericht bedeutet. Oberhaupt der Gruppe ist ein fanatischer islamistischer Dschihadist mit enormen finanziellen Ressourcen. Ähnlich wie die Drăculsângeer haben seine