Das Maedchen am Klavier
alle so schwer ertragen hatten, als er noch lebte, saß Clara allein in ihrem Zimmer und spielte und schrieb, setzte fest und änderte.
Die »Quatre Pièces« reichten ihr nicht. Als die Noten dazu fein säuberlich in einer hellblauen Mappe lagen, zusammengebunden mit einem dunkelblauen Band, begann Clara schon mit ihrem Opus 6, den »Soirées Musicales« . Eine bunte Mischung: Toccatina, Notturno, Mazurka, Ballade, Mazurka, Polonaise – alles viel spielerischer als die »Quatre Pièces« , als wäre Clara in den letzten Wochen um eine halbe Welt weitergeschritten. Von Tag zu Tag fühlte sie sich freier. Eine Last war von ihrer Seele gewichen. Aus Papas Clärchen war Clara Wieck geworden.
2
Während im Haus in der Grimmaischen Gasse eine schmerzgedämpfte Stille herrschte, fiel Außenstehenden immer häufiger auf, dass es eine Person im Haushalt gab, deren Verhalten von dem aller anderen abwich. Es war Ernestine von Fricken, von der man, da sie nicht verwandt war, nicht verlangen konnte, dass sie wie die anderen schwarze Kleidung trug und bei Begegnungen auf der Straße pietätvoll die Augenwinkel betupfte, um zu demonstrieren, dass noch immer Tränen vergossen wurden, wo das Schicksal zugeschlagen hatte. Trotzdem hätte man erwarten können, dass sich Ernestine den Umständen anpasste und zumindest versuchte, ihr Temperament zu zügeln.
Doch nichts dergleichen geschah. Unempfänglich für die Stimmung in ihrer Umgebung sprang Ernestine die Treppen hinauf und hinunter, umschlang Alwin und Gustav, um mit ihnen zu tanzen, trällerte Lieder, die ein ehrbares Mädchen nicht einmal kennen sollte, und kleidete sich selbst bei Regenwetter, als befände sie sich irgendwo im Süden Europas, wo die Nichtstuer und Geldverschwender zusammentrafen und mit ihrer Lebensweise jeden Anstand verhöhnten. Rot war die Farbe, die Ernestine bevorzugte, rot ihre Kleidung und rot sogar ihre Backen, wenn sie in ständiger Eile durch Leipzigs Straßen fegte, als wäre jede Minute verloren, die sie an ihrem Ziel zu spät ankam.
Leipzig wäre nicht Leipzig gewesen, hätte es sich nicht bald herumgesprochen, wohin es Ernestine trieb: in das elegante Haus der Henriette Voigt, Bürgersgattin, doch auch eine begabte Musikerin und Herzensfreundin von Robert Schumann, der sich – welch ein Zufall! – immer gerade dann bei ihr aufhielt, wenn auch das junge Fräulein aus Asch auftauchte.
In der Öffentlichkeit wagten die beiden nicht, sich gemeinsam zu zeigen. Zu sehr fürchtete man Friedrich Wiecks strenges Regiment. Seine Meinung über Ernestines Begabung war hoch, doch ihr Verhalten in letzter Zeit hatte bereits sein Misstrauen erregt. Hätte er erfahren, dass sie sich insgeheim mit seinem ehemaligenSchüler traf, hätte er sie wahrscheinlich mit der nächsten Postkutsche in ihr böhmisches Dorf zurückgeschickt.
Doch er brauchte es gar nicht erst zu erfahren. Durch die unerforschlichen Kanäle persönlicher Verbindungen war auf Gut Fricken bereits die Nachricht eingetroffen, die junge Dame bilde sich in Leipzig nicht nur auf musikalischem Gebiet weiter. Sogar der Name Schumann fand sich in einem scheinbar wohlwollend klingenden Brief, in dem die Schreiberin ihn als allseits bekannten Herzensbrecher rühmte. Da dies keine Eigenschaft war, die dem Vater einer jungen Tochter angenehm in den Ohren klang, forderte der Freiherr umgehend bei Friedrich Wieck genauere Informationen an. Seine Besorgnis war jedoch so groß, dass er Friedrich Wiecks Antwort gar nicht mehr abwartete, sondern sich umgehend mit einem Tross von Sekretären und Bediensteten nach Leipzig aufmachte.
Im » Hôtel de Pologne« stieg er ab und begab sich ohne Verzögerung in die Grimmaische Gasse. Die erste Begegnung mit dem Lehrer seiner Tochter glich dem Zusammenprall zweier Büffel, wie man es auf idealisierten Zeichnungen und Aquarellen bestaunen konnte, seit Europa das Leben der amerikanischen Rothäute als wunderbar natürlich und romantisch rühmte. Sogar an Lautstärke waren die beiden einander gleichwertig, wenn auch in der Tonhöhe verschieden. Jedenfalls zitterten die Familienmitglieder und die Diener um Friedrich Wiecks Leben.
Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung kehrte Ernestine mit noch röteren Backen als sonst von ihrem Treffen mit dem Herrn Schwärmerer zurück. Sogar Friedrich Wieck verschlug es die Sprache, als er zusehen musste, mit welcher Bodenständigkeit die böhmische Aristokratie ihr Erziehungsrecht ausübte. An ihren ohnedies schon zerzausten
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