Das Maedchen am Klavier
Kindheit und dem unbekannten Land der Zukunft schwankte sie hin und her, fühlte sich einmal hier zugehörig, dann wieder dort und war überall fremd. Der Tod des kleinen Clemens hatte diese Unsicherheit verstärkt. Vor allem aber war es der heimliche Spott, mit dem Robert Schumann ihre »Romance varié« bedacht hatte, der sie sich selbst in Frage stellen ließ. War sie denn überhaupt in der Lage, ein Werk zu schaffen, das nicht nur in den unkritischen Bürgerhäusern der Provinz anerkannt wurde, sondern auch von jenen, auf deren Urteil es ihr ankam? Und: was würde ihr Vater dazu sagen, wenn sie von seinen Vorgaben abwich? Das abfällige Wort vom »Trillerpüppchen« fiel ihr ein, das einmal ein Kritiker den Wunderkindern der Salons entgegengeschleudert hatte. Nicht von Clara war da die Rede gewesen, aber dennoch hatte sie sich angegriffen gefühlt. Trillerpüppchen – genau das war es, was sie nicht sein wollte. Nicht mehr sein wollte?
In dieser Stimmung, als sie den Tod des kleinen Bruders beweinte und sich zugleich von Robert Schumann und jenen anderen, die sich im Besitz der Wahrheit wähnten, missachtet fühlte, begann sie die Arbeit zu ihrem nächsten Werk, ihr Opus 5, mit dem sie neue Wege beschreiten wollte.
Ihre bisherigen Kompositionen waren fast ohne Mühe entstanden, ein hinreißendes Dahinperlen, der Fülle ihres Talents entsprungen und mit dem einzigen Zweck, zu verblüffen und zu gefallen. Diesmal aber sollte es anders werden. In ihre tiefste Seele wollte sie hineinhören, wie Robert Schumann ihr geraten hatte. Was fühle ich? Was treibt mich an? Wohin will ich? Wohin gehöre ich überhaupt?
So viel Unruhe war in ihr, so viel unterdrückter Zorn über eine Ungerechtigkeit, die sich nur spüren, aber nicht fassen ließ. Dazu noch ein heimlicher Spott, mit dem sie sich über die eigenen Zweifel lustig machte. Bei aller Verunsicherung war ihr doch bewusst, dass sie in ihrem jungen Leben schon viel mehr erreicht hatte als fast jede andere Gleichaltrige. Warum aber genügte es ihr nicht? Warum freute sie sich nicht einfach über den Beifall, der ihr entgegenschwoll, und über die Leichtigkeit, mit der sie aufnahm und schuf, wo sich andere mühten und quälten? War dies der Unterschied zwischen Talent und Genie, dass das Genie nie satt wurde? War es vielleicht das, was sie mit Robert Schumann gemeinsam hatte und was sie zu ihm hinzog über alle Distanz von Alter und Charakter hinweg? War sie wie er dazu verdammt, niemals zufrieden zu sein und immer nur für kurze Zeit glücklich?
Opus 5: »Quatre Pièces Caractéristiques«. Mit »Le Sabbat« begann es, einem furiosen Hexensabbat, witzig und zornig zugleich; erst ganz laut, dann wieder drohend leise und beunruhigend; beißende Dissonanzen und chromatisch absteigende Apoggiaturen. Keine zu Herzen gehende Lieblichkeit mehr wie in der »Romance varié«, nicht mehr das Werk eines Wunderkindes, sondern der trotzige Aufschrei einer Seele, die auf der Suche ist und fürchtet, niemals bei sich selbst anzukommen.
Danach dann die quirlige »Caprice à la Boléro« und die »Romance« , ein sanftes Schweben zwischen H-Dur und h-Moll, zwischen freudiger Hoffnung und ängstlicher Sehnsucht, verträumt und versponnen – so viel Gefühl auf einmal und so wenig Interesse daran, die eigene Virtuosität zu beweisen!
Als Abschluss »Le Ballet des Revenants« , das Geisterballett, angeregt durch die Lektüre der romantischen Dichter und doch ganz und gar Claras eigenes Werk. Schemenhafte Spukgestalten erschienen da und gaben Rätsel auf, zeigten sich, huschten davon und kehrten zurück, trieben ihren Scherz und verloren sich dann im leise verklingenden Schluss.
Zum ersten Mal hatte Clara das Gefühl, nichts mehr ändern zu wollen, nichts ändern zu können und auch nichts ändern zu dürfen. Das »Geisterballett« – das war sie und so fühlte sie. Als es fertig war, konnte sie endlich aufatmen.
Zugleich aber dachte sie an ihren Vater. Er würde sofort verstehen, was diese Musik zu bedeuten hatte. Seine Clara war nicht mehr sein fügsames Mädchen, das er schieben konnte, wohin er wollte. Sein kleiner Russe – das mochte sie vielleicht noch sein: robust und stark im Ertragen. Doch ihr Wesen hatte sich verändert, hatte die Schale des angelernten Denkens durchbrochen und war vielleicht nahe daran, sich selbst zu finden.
Wie in einem Rausch brachte Clara ihre Kompositionen zu Papier. Während die Familie verstummt war in der Trauer um den kleinen Knaben, den sie
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