Das Maedchen am Klavier
– so empfand es Clara – wies er sie damit nur in ihre Schranken. Der erwachsene Komponist zeigte der Anfängerin ihre Grenzen. Zu allem Überfluss widmete er sein Werk nicht einmal ihr, sondern Friedrich Wieck, der es verächtlich in die Lade warf, in der schon die Briefe seiner ersten Gemahlin vermoderten.
Lange zerbrach sich Clara den Kopf über Robert Schumanns Beweggründe. Da er sie jedoch stets mit großer Liebenswürdigkeit behandelte, kam sie zu dem Schluss, er habe ganz sicher nur als Freund gehandelt und ihrem Werk Ehre erweisen wollen, indem er es bearbeitete. Trotzdem kränkte es sie zutiefst, als ihre »Romance varié« in der »Allgemeinen Musikalischen Zeitung« nur ganz nebenbei erwähnt wurde, während man Robert Schumanns »Impromptus« über den grünen Klee lobte. Als dann der österreichische Dramatiker Franz Grillparzer auch noch die »heimliche Tücke und den leisen Schalk« des Komponisten rühmte, hämmerte Clara mit geballten Fäusten auf die Tasten, da dies ja wohl ihre eigene heimliche Tücke und ihr eigener leiser Schalk gewesen waren. »Nehmt mich doch ernst!«, flüsterte sie verbittert. »Ich bin Clara Wieck, nicht irgendein Winzling von Doppelgänger, den man missachten darf.«
Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass ihr Vater vielleicht recht gehabt hatte, als er sie warnte, Doppelgänger brächten nur Unglück. Jedenfalls, so beschloss sie, wollte sie auf keinen Fall ein verkleinerter weiblicher Doppelgänger des männlichen Genies Robert Schumann sein. Robert Schumann – ihr lieber Freund? Konnte es eine wahre Freundschaft geben zwischen zwei Künstlern, die sich ehrgeizig in ähnlichen Bahnen bewegten?
Sie wollte geachtet werden. Geachtet nicht nur von ihrem Vater und vom Publikum in den Provinzstädten, sondern auch von den Kritikern der Großstadtpresse und von den verwöhnten Musikkennern der Metropolen. Paris, Wien, London, Berlin – das war die Welt, in der sie sich bewegen wollte. Bach, Beethoven und Schubert sollten ihre Meister sein, Chopin, Liszt und Mendelssohn ihre Konkurrenten.
Noch aber betrachtete man sie als das hübsche Wunderkind, das allmählich zum jungen Mädchen heranreifte. Noch galt sie als ein Versprechen an die Zukunft. Doch die Zukunft war bereits in ihr, das fühlte sie. Früher als die anderen hatte sie begonnen, früher wollte sie am Ziel sein – so wie er, der das Gleiche ersehnte wie sie selbst: Robert Schumann. Ihr Freund? Ihr heimlicher Doppelgänger? Ihr Schicksal – glückbringend oder gefährlich?
Jeden Tag verbrachte Robert Schumann viele Stunden mit seinen Kompositionen, die immer vollkommener wurden, immer eigenständiger, dachte Clara. Seine »Papillons« mit ihren Anspielungen auf die fliehende Zeit und die Flüchtigkeit aller Träume hatten sie so begeistert, dass sie sich heimlich wünschte, sie wären von ihr selbst. Sogleich hatte sie sie einstudiert und in ihr Repertoire aufgenommen. Es kam ihr vor, als habe Robert Schumann als Komponist zu sich selbst gefunden, und obgleich sie wohl mehr arbeitete als jedes andere Mädchen in Leipzig, nahm sie sich dennoch vor, es Robert Schumann gleichzutun und ebenso tätig zu sein wie er.
Als sie ihm davon erzählte, lächelte er und erklärte, genau so müsse eine wahre Künstlerfreundschaft beschaffen sein: dass man sich gegenseitig anregte und beflügelte. »Gemeinsam zu den Sternen!«, sagte er und schenkte ihr eine Orangenblüte, die sie sich ins Haar steckte und noch am selben Abend zwischen zwei Löschblättern presste, um sie für immer zu bewahren. Sie war froh, dass er endlich einmal nichts von Doppelgängern gesagt hatte.Manchmal dachte Clara, ihr Vater habe recht gehabt, als er sagte, wenn sie leide, würde dies ihre Kunst verfeinern. Dass das Leiden ihr Schmerzen bereitete, störte ihn ebenso wenig, wie es ihn bekümmert hatte, dass Clara als Kind nicht sprach. Klavier spielen konnte man, auch ohne zu reden, und die Menschen ergreifen, ohne selbst glücklich zu sein. Wahrscheinlich würde es das Publikum sogar noch stärker faszinieren, wenn eine Virtuosin am Klavier saß, die stumm war und sich nur in Tönen mitteilen konnte. Ein Wunderkind, das sich nach seinem Auftritt als kleine Plaudertasche erwies, war dem geheimnislosen Alltag zu nahe, näher jedenfalls als eine blasse Schönheit, die nicht diskutierte, sondern wie ein Wesen aus einer idealen Welt sanft und schweigend vorbeischwebte.
Clara war bewusst, dass sie nicht glücklich war. Zwischen dem Reich der
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