Das Maedchen am Klavier
das Schicksal schwer bestraft hatte. Durch einen Händler, der in Berlin seine Klaviere vertrieb, erfuhr Friedrich Wieck in unregelmäßigen Abständen, wie es den beiden großen Feinden seines Lebens erging. Den Briefen, die Marianne an ihre Leipziger Kinder schrieb, waren Einzelheiten über ihre Lebensumstände ja nicht zu entnehmen.
Niemals beklagte sie sich. Dabei hätte sie allen Grund gehabt, mit dem Schicksal zu hadern. Anno 30, als die Cholera Berlin für mehrere Monate heimsuchte, hatte Adolph Bargiel sein Logier’sches Institut schließen müssen. Als der Spuk vorbei war, versuchte er einen neuen Anfang, doch die Schüler blieben fort. Vielleicht hätte er es mit Geduld trotzdem geschafft, doch dann schmetterte ihn das Schicksal endgültig zu Boden. »Ein Schlag hat ihn gestreift«, so formulierte es der Klavierhändler. »Er spricht nur noch ganz undeutlich, und die eine Gesichtshälftehängt schlaff herab. Er schlurft dahin wie ein alter Mann, und das ist er ja nun wohl auch: ein gebrochener, alter Mann.«
Friedrich Wieck konnte es sich nicht vorstellen. Der beste Freund seiner Jugend, eigentlich der einzige Freund, den er je gehabt hatte: Adolph Bargiel, dem die Frauen nicht widerstehen konnten. Die Welt hatte er erobern wollen, als Künstler und als Mensch. Keine Grenzen schien es zu geben für seinen Charme, sein Lächeln und seine wunderbare Stimme. Kein Wunder eigentlich, dass auch Marianne auf ihn hereingefallen war. Sie auf ihn oder er auf sie? Eigentlich wusste Friedrich Wieck nicht, wem von beiden er die Hauptschuld an dem Betrug zuweisen sollte.
Er selbst spielte bei diesen Überlegungen keine Rolle. Nie wäre er auf den Gedanken gekommen, dass all das Unglück vielleicht ausgeblieben wäre, hätte er sich besser um seine junge Frau gekümmert. Er hatte doch – so fand er – immer nur seine Pflicht getan und für seine Familie aufopfernd gesorgt. Clementine betrog ihn schließlich auch nicht, obwohl er auch sie monatelang allein ließ! Dass sie ebenfalls, wie einst Marianne, unzufrieden sein könnte, kam ihm nicht in den Sinn.
Marianne. Nachdem die Krankheit ihren Mann gebrochen hatte, musste sie, Marianne Bargiel, geschiedene Wieck, geborene Tromlitz, die Führung der Familie übernehmen. Sie versuchte sogar, nun ihrerseits das Logier’sche Institut zu betreiben. Doch vergeblich. Niemand traute einer Frau zu, einer derartigen Aufgabe gerecht zu werden. Kein Schüler meldete sich an. Niemand lieh ihr das Geld, mit dem sie die Durststrecke vielleicht überstanden hätte.
So blieb ihr als letzte Rettung nur noch eine Zeitungsannonce, in der sie ihre Dienste als »höchstausgebildete Musiklehrerin allerersten Ranges« anbot. Klavier und Gesang, das unterrichtete sie von nun an Tag für Tag und rettete damit ihre Familie vor dem Verhungern. Keine überdurchschnittlich begabten oder zumindest besonders motivierten Schüler wie im Logier’schen Institut kletterten nun die steilen Stufen zur Bargiel’schen Wohnung hinauf, sondern Kinder, die noch nicht einmal zur Schule gingen;etwas ältere, die zum Üben gezwungen werden mussten; und ein paar junge Mädchen, denen es darauf ankam, bei Familienfesten zu glänzen und mit ihrer Musikalität mögliche Verehrer auf sich aufmerksam zu machen.
Das Honorar war dürftig, doch Marianne fürchtete, ihre Schüler zu verlieren, wenn sie mehr verlangte. Nur der Unterricht von ein paar Bürgerskindern aus der höheren Schicht schlug einigermaßen zu Buche. Dafür musste Marianne diese Schüler aber auch zu Hause aufsuchen, was einen Zeitverlust bedeutete und außerdem Schuhwerk verschliss. Ja, auch solche Überlegungen spielten eine Rolle für Marianne, die in ihrem früheren Leben im Leipziger Gewandhaus konzertiert hatte und vielleicht die Welt hätte erobern können, wäre sie nicht zwei Männern begegnet, die ihr kein Glück brachten.
Essensgerüche im Treppenhaus, Lärm aus den anderen Wohnungen und Nachbarn, die sich ihrerseits über das ständige Geklimper und Gejaule beklagten. Dazu vier Kinder, denen die Stadtluft und das billige Essen nicht gut taten, und vor allem ein Ehemann, der sich bedienen ließ wie ein Pascha und trotzdem immer nur jammerte. Er wisse, dass er ihr im Weg sei, erklärte er täglich. Solle sie ihn ruhig im Armenhaus abliefern, dann könne sie sich wieder einen jungen Hengst anlachen, wie er einmal einer gewesen sei. Jeden Mann, der in ihrer Nähe auftauchte, beobachtete er mit Misstrauen und voller Angst, verlassen zu
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