Das Maedchen am Klavier
befassten, aber meist nur aus einer subjektiv-schwärmerischen Sicht heraus. Überwältigenden Gefühlen begegnete Clara da, doch kaum realenTatsachen, die eine ferne, untergegangene Epoche in den Ablauf der Zeit eingegliedert hätten.
Vor unzähligen berühmten Gebäuden war Clara bereits gestanden, ohne zu wissen, wer sie gebaut hatte und warum, welche Erinnerungen auf ihnen lasteten oder sie heiligten oder welchem Zweck sie zurzeit dienten. Wie durch ein Panoptikum skurriler Monumente war sie bisher gelaufen, sah nur das Äußere und konnte ihm keinen richtigen Sinn beimessen. Sie wusste nicht einmal, welche Fragen sie hätte stellen können. Die Jahre, die sie allein oder mit ihrem Vater am Klavier zugebracht hatte, hatten einen Teil ihrer Wahrnehmung ausgeblendet.
Nur bei allem, was die Musik betraf, war sie wach. Wacher als wach sogar. Hier spürte sie jede Nuance, jede Schwingung und jedes Gefühl, das sich dahinter verbarg. Schon als Kind war sie in der Lage gewesen, Kompositionen zu beurteilen und fallweise sogar mit gutem Gewissen und voller Überzeugung zu verurteilen.
Einseitigkeit hatte sich ihr Vater für sie gewünscht, um sie davor zu bewahren, sich zu verzetteln. Auf einer Insel der Musik sollte sie leben – ein Diktat, dem sie sich willig unterwarf, bis sie merkte, dass die äußere Welt immer wieder in ihre geistige Abgeschiedenheit eindrang und sie mit unerwünschten Ablenkungen und Anforderungen bedrohte. Mochte Clara auch von Musik durchdrungen sein, so gab es dennoch andere, die mit ihr in Konkurrenz traten und nicht nur ihr Instrument beherrschten, sondern auch von Wissen geprägt waren, von Bildung und einer Unzahl von Kenntnissen, mit denen sie in ihren Gesprächen faszinierten und oft auch amüsierten. Im Umgang mit Robert Schumann, aber vor allem mit weniger Nahestehenden wie Felix Mendelssohn oder beinahe Fremden wie Frédéric Chopin spürte Clara eine Weite des Denkens, von der man sie bisher ferngehalten hatte, und sie fragte sich, ob dieser Mangel womöglich auch ihre Musik beeinträchtigen konnte.
Paris, Berlin, Prag. Noch überfielen sie ihre Zweifel nur hin und wieder wie kleine Blitze am nächtlichen Himmel, die einGewitter erst ankündigten. Dann aber kam sie nach Wien und der Himmel war auf einmal hell erleuchtet.
Bepackt mit einer Fülle von Eindrücken und einander widerstrebenden Empfindungen näherte sich Clara mit ihrem Vater und der Zofe Nanni am 27. November 1837 der Kaiserstadt Wien. Während der ganzen Fahrt hatte Friedrich Wieck von dem »brillanten succès« in Prag geschwärmt, von den manchmal über sechshundert Zuhörern, den unzähligen Blumenbuketts, die Claras Hotelzimmer geradezu überschwemmten, und von den schmachtenden Verehrern, die schworen, ihretwegen nach Leipzig zu ziehen, um ihrem Idol immer nahe zu sein. Wie eine Kapazität wurde Clara behandelt und ständig nach ihrem Urteil befragt, das sie unbekümmert abgab, sodass sie häufig die Lacher auf ihrer Seite hatte und Friedrich Wieck vor Zufriedenheit fast schnurrte.
»Demoiselle Wieck!«, rief man ihr zu. »Es heißt, Sie wüssten Gluck nicht zu schätzen. Ist Ihnen bekannt, dass viele andere ihn als den besten Komponisten der Welt betrachten?«
Friedrich Wieck wollte den Zeitungsmann abwimmeln, um Clara eine Verlegenheit zu ersparen. Doch Clara lachte nur. »Wenn ich einmal eine alte Jungfer bin, werde ich vielleicht auch über Gluck schmachten«, rief sie dem Fragesteller über die Schulter hinweg zu, während sie bereits weitereilte. »Jetzt aber will ich nicht einseitig sein und allem Schönen in der Kunst leben.«
Die Worte gingen ihr leicht von den Lippen und spendeten den Feuilletons willig Nahrung. Wenn Clara aber mit ihrem Vater und Nanni allein war, schwieg sie. Während die Postkutsche durch die spätherbstliche Hügellandschaft rollte, immer näher an das unbekannte Wien heran, waren Claras Gedanken bei Robert Schumann, dessen nächster Brief sie in der Kaiserstadt erwarten würde. Er sehne sich nach ihr, hatte er ihr nach Prag geschrieben. Immer mehr spüre er, wie sehr er sie brauche. Ohne sie verliere er seinen Halt – woraus sie schloss, dass er nun wieder seine Abende im »Kaffeebaum« verbrachte und womöglich auchmit »attischen Nächten« im Kreise von Sonnenjünglingen, obwohl er sich doch nichts mehr wünschte als diesen Versuchungen für immer zu entrinnen. »Im Traum erscheint mir manchmal meine Mutter«, hatte er Clara einmal gestanden. »Nichts fürchte ich mehr als
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