Das Maedchen am Klavier
Anfang an war dieses Haus eine Selbstverständlichkeit für sie gewesen, fast wie ein Teil ihrer selbst. Dass es instand gehalten und in angemessener Weise geschmückt wurde, dafür hatte Clementine immer gesorgt. Niemals war sie dafür gelobt worden. Ihr Dienst war so selbstverständlich wie das Haus und ihre Familie, für die sie ihn leistete.
Erst jetzt, wo das Band zu ihren Angehörigen am Zerreißen war, begriff Clara, wie behütet sie bisher gelebt hatte. Wie viel ihr der Vater auch abverlangt hatte – stets hatte er dabei seine Hand schützend über sie gehalten. Sie mochte überfordert gewesen sein, erschöpft oder zornig – sie konnte dennoch immersicher sein, dass keine Gefahr zu nahe an sie herankommen würde.
In diesem Augenblick, als sie allein und unbemerkt vor ihrem Elternhaus stand, erinnerte sich Clara plötzlich an ein Aquarell, das in Plauen, im Haus ihrer Großeltern über ihrem Bett gehangen war. In all den Jahren hatte sie das Bild vergessen. Nun fiel es ihr wieder ein, zugleich mit den Worten ihrer Großmutter – Madame Tromlitz, ja, Tromlitz hatte sie geheißen! »Das kleine Mädchen da vor dem Abgrund soll alle guten Kinder darstellen, die in Gefahr sind. Weil das Bild aber in deinem Zimmer hängt, bist du dieses Kind, mein Clärchen.« Clara konnte sich auf einmal sogar an die Stimme der Großmutter erinnern und an das eigene Schweigen, das allen weh getan hatte. »Und siehst du den Engel – so groß und so schön! –, wie er das Kind warnt und zurückhält? Er ist ein Schutzengel. Dein Schutzengel, Clara, der immer bei dir sein wird, um dich zu behüten.«
Mit ernster Miene hatte Clara das Bild betrachtet. Immer wieder, jeden Morgen, wenn sie nach dem Aufwachen nach oben blickte. Erst jetzt begriff sie, wer damals in ihrer Fantasie mit dem Schutzengel auf dem Bild eins geworden war. Es war ihr Vater und als er sie, die kleine, noch nicht einmal Fünfjährige, von der Postkutsche abholte, spürte sie die gleiche Sicherheit wie das Kind auf dem Bild, das keine Angst zu haben brauchte, weil sein Schutzengel ständig wachte. Man musste ihm nur dankbar sein und seinen Wink beachten, dann stand man für immer unter seiner Obhut.
Ganz friedlich war Clara auf einmal zumute. Ohne jeden Zweifel glaubte sie zu wissen, was zu tun war. Noch hatte kein Richter eingegriffen. Noch konnte man mit einem offenen, liebenden Wort vom Abgrund zurücktreten. Kein Zerwürfnis war trennend genug, um einen Vater wie Friedrich Wieck seinem Kind zu entfremden.
Clara atmete auf. Sie merkte, dass sie noch immer vor Kälte zitterte. Trotzdem hatte sie das Gefühl, als wäre ihr plötzlich ganz warm. Erleichtert und zuversichtlich trat sie vor das Haustor undbetätigte den Türklopfer. Keinen Augenblick lang zweifelte sie daran, dass ihr Vater zu Hause war. Fast wie ein Kind kam sie sich vor, das vertrauensvoll auf sein Schicksal zugeht.
Von draußen her hörte sie, wie das Klopfen durch den Flur hallte. Wie gut sie dieses Haus kannte und alle seine Geräusche! Auf einmal wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass sie endlich eintreten konnte und das Tor hinter ihr zufiel. Dann würde sie im Halbdunkel stehen, denn tagsüber wurde hier kein Licht angezündet. Wenn die Zimmertüren geschlossen waren, drang nur durch das Treppenfenster im ersten Stock Licht herein. Doch eine Beleuchtung würde ihr nicht fehlen, kannte sie doch jeden Winkel hier, jedes Möbel und jeden einzelnen Gegenstand, sei er noch so klein und unbedeutend. Hier war sie zu Hause, das begriff sie in diesem Moment, und von keinem Ort in der Ferne hatte sie sich je so schmerzlich nach diesen Räumen zurückgesehnt wie jetzt, da nur ein hölzernes Tor sie davon trennte.
Von drinnen her drang kein Laut. Clara trat auf die Straße zurück und blickte hinauf zu den Fenstern, ob dort jemand stünde, der sich erst vergewissern wollte, wer der Besucher war, der da Einlass begehrte. Doch niemand war zu sehen. Erst als sie schon den Blick abwenden wollte, kam es ihr vor, als bewegte sich kaum merklich die weiße Gardine im Salon. Clara meinte schon, sie könnte sich auch getäuscht haben. Vielleicht war es nur ein Lufthauch, dachte sie, aber dann hätte sich die Bewegung wahrscheinlich wiederholt.
Von einem Augenblick zum anderen war ihre Zuversicht verflogen. Sie stellte sich plötzlich vor, dass ihr Vater da oben stand – an der Seite, damit man ihn von unten auch wirklich nicht sehen konnte – und mit kalten Augen auf sie herunterblickte.
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