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Das Maedchen am Klavier

Das Maedchen am Klavier

Titel: Das Maedchen am Klavier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosemarie Marschner
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am Unterricht teilnehmen.«
    Zum Spazierengehen als körperliche Ertüchtigung kam man nicht mehr. Es wäre dafür auch zu kalt gewesen. Da Friedrich Wieck den französischen Ärzten nicht über den Weg traute, hatte er ständig Angst, Clara könnte sich erkälten. Zum ersten Mal fürchtete er, sie zu überfordern. Erst nach und nach beruhigte er sich wieder und beobachtete mit einem stolzen Lächeln, wie sein kleiner Russe in Mantel und Handschuhen mit Gabrielle im Hotelzimmer saß und jeden Tag besser französisch parlierte.
    Eine exzellente Lehrerin und eine begabte Schülerin waren aufeinandergetroffen. Beide hatten gelernt, sich zu konzentrieren. Beide wollten Erfolg. Schon nach ein paar Tagen sprach Clara das Wenige, das sie bisher konnte, ohne Akzent, und Gabrielle sorgte dafür, dass dieses Wenige bald mehr wurde. Viel mehr. Sie bereitete Clara auf die Situationen vor, die sie bei den Soireen antreffen würde, gab ihr Phrasen mit und kleine, alltägliche Ausrufe und Kommentare, die eine Sprachbeherrschung vortäuschten, die noch gar nicht vorhanden war. Mit Nachdruck bestand Gabrielle darauf, dass Clara das Geübte auch anwandte, und verlangte jeden Morgen einen Bericht von den Gesprächen des vergangenen Abends. Danach konnte sie oft kaum fassen, wie schnell Clara alles begriff und wie gut ihr Gedächtnis war. »Wieein Lappen!«, lobte Gabrielle mit der überkorrekten deutschen Aussprache derer, die sich eine Fremdsprache fast ausschließlich selbst beigebracht haben.
    »Wie ein Schwamm!«, verbesserte Clara. »Papa sagt das auch immer.« Dann übten sie weiter. Ein anderer Schüler hätte Gabrielle vielleicht als Einpeitscherin empfunden, doch Clara war von ihrem Vater her nichts anderes gewöhnt.
    So kam es, dass das deutsche Wunderkind die ungenierten Fragen der Pariser Salondamen bald verstand, sie auch beantworten konnte und überdies dem Vater als Übersetzerin behilflich war.
    »Sie schwatzt wie eine perfekte Französin«, schrieb Friedrich Wieck an sein »geliebtes Tinchen«, das daran wohl nur am Rande interessiert war. »Ich selbst habe noch meine Schwierigkeiten. Un pauvre allemand ne comprend pas un mot à Paris . Du solltest mich sehen auf diesen Abendveranstaltungen: in der einen Hand meinen Hut, in der anderen meine Werkzeugtasche, weil diese vergammelten Flügel während des Spielens immer wieder kaputtgehen. Die Firma Erard hat uns angeboten, für Claras Auftritte eines ihrer (nicht üblen!) Instrumente zur Verfügung zu stellen. Vielleicht werden wir darauf zurückkommen. Vorläufig aber bin ich noch Mechaniker, Impresario, Stopfmadame und Kindermädchen in einem. Um mich verständlich zu machen, rede ich halb deutsch, halb französisch und halb verzweifelt, und ich fürchte, niemand hier nimmt mich für voll. Das aber nur unter uns! Wenn Du anderen von meinen Briefen erzählst, sprich bitte immer nur über unsere gigantischen Erfolge! Ewig Dein, Friedrich Wieck.«
2
    Friedrich Wieck hatte sich vorgestellt, Clara würde schon nach wenigen Wochen in den angesehensten Konzertsälen der Stadt auftreten. Sein Schwager hatte ihm erzählt, Felix Mendelssohn sei es auf Anhieb gelungen, sich im altehrwürdigen Conservatoirezu präsentieren. Diese Information erhöhte Friedrich Wiecks Optimismus. Vor einigen Jahren hatte er Mendelssohn in Berlin gehört: Beeindruckend, hatte er gefunden, sehr ausdrucksstark – aber Clara spielte exakter.
    Friedrich Wieck spürte, dass ein neuer Zeitgeist dabei war, sich zu etablieren. Nicht mehr virtuos wollte man auf einmal sein, sondern romantisch. Romantisch! Friedrich Wieck hätte das Wort am liebsten ausgespuckt. Es erinnerte ihn an undisziplinierte »Fantasiemenschen« wie den unseligen Bargiel, die es zu nichts brachten und sich trotzdem denen überlegen fühlten, die ehrliche Leistung lieferten. Mendelssohn war ein Könner, das erkannte Friedrich Wieck neidlos an. Trotzdem hatte er bei dessen Spiel den Eindruck gehabt, es käme jenem vor allem auf Inbrunst an, auf Leidenschaft und Gefühl. Dem alten Schulmeister Friedrich Wieck war nicht entgangen, dass sich der junge Mensch da oben auf der Bühne von seinen Emotionen fortreißen ließ und dabei Töne verwischte und vor lauter Selbstvergessenheit nicht mehr so sauber spielte, wie der unbestechliche Lehrer Wieck es von seiner Schülerin Clara verlangte.
    Es war ungerecht, dass das Publikum eine perfekte Virtuosin – wie jung sie auch sein mochte – übersah und den neuen Wilden nachschmachtete. Chopin, der

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