Das Maedchen am Klavier
berauschten sie. Es kam ihr vor, als hätte sich mit dem neuen Idiom die Welt, in der sie lebte, verdoppelt. Sogar sie selbst bemerkte, dass sie sich anders verhielt, wenn sie Französisch sprach. Viel freier und ungezwungener. Die Schlacken und Narben ihrer deutschen Kindheit waren vergessen. »Mademoiselle Clará« betonte sich auf der letzten Silbe und hatte nichts mehr zu tun mit dem großäugigen kleinen Mädchen,das sich so lange dem sprachlichen Kontakt verweigert hatte. »Mademoiselle Clará« war nicht die Tochter einer Mutter, die sich aus Leichtsinn oder Verzweiflung das Leben verpfuscht und ihre drei Leipziger Kinder im Stich gelassen hatte. »Mademoiselle Clará« war ein freier Mensch, für den das Alter keine Rolle spielte. Eine Erwachsene im Körper eines Kindes: verantwortlich und verantwortungsbewusst. Diszipliniert und einsatzbereit. Gefeiert und umschmeichelt.
Die Salons, in denen sie auftrat, schüchterten sie nicht ein. Sie kannte kein Lampenfieber und keine Scheu. Nicht einmal vor den klapprigen Instrumenten, die man ihr zumutete, hatte sie Angst. Auch wenn jede zweite Taste ruckelte und zuckelte, vertraute »Mademoiselle Clará« auf die Kraft ihrer Finger. »Deine Klaviertatzen«, murmelte Friedrich Wieck manchmal gerührt, wenn seine Tochter wieder einmal einen alten Drachen von Flügel bezwungen hatte und das anspruchsvolle Publikum zufrieden klatschte und »Bravo!« rief. Dann konnte es geschehen, dass der alte Schulmeister die unbarmherzigen kleinen Werkzeuge an die Lippen führte und die malträtierten Fingerkuppen mit den gespaltenen Nägeln dankbar küsste.
Der Karneval in Paris taumelte seinem Höhepunkt entgegen. Wer auf sich hielt, lud sich Gäste ein, so viele die eigenen Räume nur fassen konnten. Es war ein Gradmesser der gesellschaftlichen Bedeutung, wie viele der Angesprochenen auch wirklich erschienen und wie lange sie blieben. Um sie anzulocken, musste ihnen Unterhaltung geboten werden, Amüsement, Sensationen und die Präsenz anderer Gäste, die für bedeutend gehalten wurden, sodass man sich später rühmen konnte, den Abend mit ihnen verbracht zu haben. Vor allem aber galt es, sich mit Künstlern zu schmücken, die den Anwesenden das Gefühl vermittelten, an deren Genie teilzuhaben und selbst einer Elite anzugehören – auch wenn das auf Wunsch unsignierte Porträt des aristokratisch blickenden Ahnen im Salon der Gastgeber von Eduard Fechner stammte.
Paris hungerte nach Künstlern, die den Soireen ein Gesicht verleihen sollten. Dafür war man bereit, auch Geld auszugeben. Friedrich Wieck fühlte sich zwar gedemütigt, dass die öffentlichen Säle kein Interesse an seiner Tochter zeigten, doch es tröstete ihn wenigstens, dass Clara auch durch Mundpropaganda immer bekannter wurde und sie bald für manche Abende gleich mehrere Einladungen erhielt, von denen er die lukrativste oder die glanzvollste auswählte.
Manche Gastgeber konnten es sich leisten, gleich mehrere Künstler zu engagieren, die im Laufe des Abends – durch längere Pausen voneinander getrennt – auftraten. So traf Clara mit fast allen Berühmtheiten der Stadt zusammen. Im Wirbel der Feste unterhielt man sich so gut wie nie miteinander, doch Clara hatte zum ersten Mal Gelegenheit, anderen Solisten zuzusehen und sich mit ihnen zu vergleichen.
An der Seite ihres Vaters stehend, beobachtete sie den großen Chopin, den Gott am Klavier, der über dreihundert Gäste in das Privathaus eines Bankiers gelockt hatte – ein Stadtpalais nur, kein Schloss, doch die Anwesenheit des jungen Polen ließ alle anderen Soireen verblassen. In drei aneinandergrenzenden Räumen drängte man sich. Nur wenige Zuhörer konnten den Künstler überhaupt sehen. Auch der Flügel ließ zu wünschen übrig. Clara befreite sich von der Hand ihres Vaters und drängte sich nach vorne. Mit eigenen Augen sah sie nun, wie Chopin – nicht anders als sie selbst an so vielen Abenden – gegen die zähen Tasten kämpfte, wie er seine Finger anspannte und dass auch seine Nägel in der Mitte längs gespalten waren.
Am liebsten wäre sie zu ihm gelaufen und hätte ihn umarmt. Schicksalsgefährte, Bruder! Oh, wie sie ihn verstand, als er am Ende seines Vortrags aufsprang, sich hastig verbeugte, das Haar zurückwarf und fast unwillig die Ovationen der Zuhörer entgegennahm. Ein Ärmel seines Fracks war voll Kerzenwachs, das von einem schief hängenden Leuchter heruntergetropft war. Wie bleich er war! Es waren eigene Kompositionen, die er geboten
Weitere Kostenlose Bücher