Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Maedchen am Klavier

Das Maedchen am Klavier

Titel: Das Maedchen am Klavier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosemarie Marschner
Vom Netzwerk:
herzförmiger Mund leuchtete blutrot. Es gebe Männer, die verrückt nach Camilla Moke seien, hatte Gabrielle einmal erzählt. Im Sprachunterricht wählte Gabrielle meistens Themen des Pariser Gesellschaftslebens. Sie war überzeugt, dass es nicht ausreichte, eine Sprache an sich zu lernen. Man musste auch die Menschen verstehen, die sich ihrer bedienten, und wissen, was ihnen wichtig war und wovor sie sich fürchteten.
    Die Prinzessin – Clara bemerkte sie kaum, so fasziniert war sie von dem einstigen Wunderkind – die Prinzessin sprach ein paar höfliche Worte. Man verstand nicht, was Camilla Moke antwortete, doch dem Tonfall entnahm Clara, dass ihr Französisch akzentfrei war. Gabrielle hatte erzählt, Camilla Moke habe trotz ihrer Jugend bereits mehrere Männer so gut wie ruiniert. Ihr letztes Opfer sei der neunundzwanzigjährige Komponist Hector Berlioz gewesen, den sie betrogen und aus heiterem Himmel verlassen habe. Noch immer leide er so sehr an der unglücklichen Liebe zu ihr, dass er zu seinem Vater nach La-Côte-Saint-André geflüchtet sei, um seine Verzweiflung auszukurieren.
    Camilla Moke verschwand in der Menge adeliger Damen und Herren – Prinzen, Minister, Gesandte – sowie einiger reicher Bürger mit ihren Gemahlinnen. Auch eine Reihe verkleideter Karnevalsgestalten hatte sich eingefunden, in Kostümen, die die geheimen Wünsche ihrer Träger verrieten: komische Figuren auf der Flucht aus einem Leben, das Pflichterfüllung einforderte; falsche Würdenträger weltlicher oder geistlicher Macht; laszive Damen mit halb entblößten Brüsten, das Gesicht hinter undurchdringlichen Masken verborgen. Hier hatte sich wohl die Halbweltunter die große Welt gemischt und wurde achselzuckend geduldet. Clara hatte ein wenig Angst vor diesen Masken, so wie sie sich im Entree vor den dort ausgestellten ausgestopften Tieren unwillkürlich gefürchtet hatte.
    Ein Lakai in prächtiger Uniform führte Clara und Friedrich Wieck in einen kleinen Saal, den er als »Künstlerzimmer« bezeichnete. Hier könne sie sich konzentrieren und zurechtmachen, so wie alle anderen Künstler auch. Sobald ihr Auftritt erwünscht sei, werde man sie abholen.
    Ein wenig verloren blieben sie zurück. »Man rechnet wohl nicht damit, dass wir uns unter die Gäste mischen«, murmelte Friedrich Wieck beleidigt. Dann gestand er, er habe unter den Anwesenden Paganini entdeckt, der anscheinend als Gast hier sei, nicht als Künstler. »Mein Freund Paganini!«, seufzte Friedrich Wieck bewegt. »Ich möchte unbedingt mit ihm sprechen. Macht es dir etwas aus, für kurze Zeit allein zu bleiben?«
    Damit verschwand er, ohne auf eine Antwort zu warten. Der Gedanke trieb ihn um, Paganini vielleicht zu einem gemeinsamen Konzert mit Clara überreden zu können. »Maestro Niccolò Paganini und Demoiselle Clara Wieck« – Friedrich Wieck sah schon die Plakate an den Wänden und die Berichte in den deutschen Zeitungen. Der unverschämte Schreiberling, der Claras Virtuosentum verspottet hatte, würde sich noch wundern. Wie war doch sein Name gewesen? Ach ja: Heine. Oder so ähnlich.
    Clara blieb allein zurück. Sie konnte nicht aufhören, an Camilla Moke zu denken, deren Kindheit bestimmt vieles mit Claras eigenen jüngeren Jahren gemeinsam hatte. Ob Camilla Moke noch Konzerte gab? Ob die Musik immer noch im Mittelpunkt ihres Lebens stand? Ob sie es bedauerte, den Bonus der Kindheit verloren zu haben? So viele Männer hatte es anscheinend in ihrem noch jungen Leben bereits gegeben! Clara, die sich manchmal im Geheimen schon ganz erwachsen vorkam, begriff plötzlich, dass jenseits der zwölf, dreizehn, vierzehn Jahre eine ganz andere, neue Welt auf sie wartete, die sie vielleicht bedrohen würde – oder wohlwollend in die Arme schloss.
    Die Zukunft. Das Leben ... Plötzlich fielen ihr ihre Brüder ein, Alwin und Gustav, an die sie lange nicht gedacht hatte. Für dumm hatte sie sie immer gehalten, doch diese Dummheit schützte die beiden zugleich und bewahrte sie vor einer Zukunftsangst, die ihre Schwester trotz ihrer jungen Jahre schon kannte. Zu viele Menschen waren ihr bereits begegnet. Zu viele Erfolge hatte sie schon erlebt und zu viele Enttäuschungen. Clara Wieck: das Wunderkind, so wie Camilla Moke einst ein Wunderkind gewesen war.
    Camillas schmollendes, verlebtes Gesichtchen erschien Clara plötzlich wie eine Bedrohung. So wie sie wollte sie nicht werden. Zu tief hatten sich die Tugenden und Hemmungen der Provinz bereits in Clara festgesetzt, das

Weitere Kostenlose Bücher