Das Mädchen am Rio Paraíso
hatte, strahlte ihr Antlitz nicht mehr jene Wachsamkeit aus, die sie so reif wirken ließ. Ihre Lippen waren ein wenig geöffnet, und auch das verlieh dem Gesicht etwas Kindliches, Naives. Sie sah sehr süß aus, und beinahe hätte Raúl dem Impuls nachgegeben, ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen.
Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er sie weckte. Es war noch immer tiefschwarze Nacht, aber sein Gefühl sagte Raúl, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis die Sonne aufging. Er hätte sie gern weiterschlafen lassen, doch er konnte sich beim besten Willen nicht mehr wachhalten. Er schubste sie an, rüttelte sie und ließ sich, kaum dass sie schlaftrunken die Augen geöffnet hatte, auf die Decke fallen. Er schlief sofort ein. Er sah nicht mehr, dass Klara noch eine Weile neben ihm liegen blieb. Er bekam nicht mehr mit, wie sie ihn aus dieser Nähe intensiv musterte. Er hörte nicht mehr, dass sie ihm etwas zuflüsterte. Und er hätte es auch gar nicht verstanden.
Deutsche Kosewörter hätten in seinen Ohren nicht anders geklungen als Beleidigungen.
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29
A m Tag nach Raúls und Klaras Abreise Richtung São Leopoldo nahm Teresa die Gelegenheit wahr, mit dem Kutscher der Leute von schräg gegenüber in die Innenstadt zu fahren. Ihr eigenes Gefährt war ja fort. Da sie Raúl spätestens am Abend zurückerwartete und vorhatte, ihm ein ganz besonders gutes Essen zu servieren, wollte sie zum Markt und noch ein paar Dinge besorgen, die sie hier im Außenbezirk nicht bekam.
Außerdem machte ihr der Kutscher, Luiz, schon länger den Hof, und man musste solche Dinge ja weiterköcheln lassen. Schließlich war sie eine Frau, es gefiel ihr, wenn ein Mann sich für sie interessierte. Sie selber fand Luiz ganz annehmbar, immerhin war er unterhaltsam. Mehr als freundschaftliche Gefühle brachte sie ihm allerdings nicht entgegen. Auch konnte sie nicht recht nachvollziehen, was ihn an ihr anzog. Sie war alt und fand sich nicht besonders schön – wobei die Blicke von Luiz ihr das Gefühl vermittelten, sie sei es eben doch. Das war einer der Hauptgründe dafür, dass sie seine Gesellschaft schätzte.
»Frag doch Senhor Raúl mal, ob er mich nicht kaufen will«, sagte Luiz, als sie auf etwa halber Strecke waren und bisher nur belangloses Zeug gequasselt hatten.
»Und warum sollte er einen alten, hässlichen Neger wie dich kaufen wollen?«
»Aus Gutmütigkeit? Damit ich dir im Alter Gesellschaft leisten kann?«
»Was soll das heißen, ›im Alter‹? Ich bin jung, stark und noch viele Jahre einsetzbar.«
»Natürlich bist du das. Aber alt wirst du ja irgendwann auch einmal.«
»Besonders, wenn ich mit der Pflege eines Tattergreises wie dir betraut werde.« Sie legte eine kleine Pause ein und fragte sich, ob sie mit ihrer Frotzelei nicht zu weit ging. »Na, wenn es so weit ist, sehen wir weiter. Was meinst du denn, was die Fagundes für dich verlangen?«
»Keine Ahnung. Was meinst du denn, was ich wert bin?« Er zwinkerte Teresa zu.
Sie schnaubte in gespielter Empörung und gab ihm eine Antwort, die er verdient hatte. Sie setzten ihre Fahrt mit ähnlichem Geplänkel fort. Kurz bevor sie den Hauptmarkt erreichten, erhaschte Teresa einen Blick auf ein Kleid, das ihr bekannt vorkam. »Fahr mal langsamer. Ich glaube, das da drüben ist Sinhá Josefina. Und ich glaube, der fesche Kerl bei ihr, das ist ein alter Schulfreund von Senhor Raúl. Ts, ts. Das müssen wir uns genauer ansehen.«
»Du bist unmöglich, Teresa«, wies Luiz sie zurecht. »Was, wenn sie uns dabei erwischen, wie wir sie ausspionieren?«
»Tun sie nicht. Die sehen uns doch nie auch nur ins Gesicht. Ich glaube, die kennen ihre eigenen Sklaven kaum. Da meinst du, sie würden uns erkennen? Vielleicht tun sie das da, wo sie uns erwarten, also wenn Josefina mich im Haus von Senhor Raúl sieht. Aber hier? Wir sehen doch aus wie ein altes, verheiratetes Paar. Wie Freie. Die erkennen uns nie und nimmer, selbst wenn wir ganz dicht heranfahren.«
Sie wartete einen Moment, in der Hoffnung, Luiz würde ihr den indirekt ausgesprochenen Wunsch erfüllen. Aber es passierte nichts. »Nun mach schon, du alter Esel. Fahr näher ran!«
Luiz wagte nicht, sich ihr zu widersetzen. Teresa war eine Frau von großer Autorität. Also bog er in die Straße ein, in der sie die beiden Bekannten Raúls gesehen hatten. Er hielt unmittelbar hinter der Kutsche, in der Josefina saß und an deren Tür sich Paulo Inácio gerade von ihr zu verabschieden schien.
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