Das Mädchen am Rio Paraíso
einem größeren Anfall auswachsen zu lassen, der mich in meiner Handlungsfähigkeit doch nur behindert hätte. Meine Vernunft übernahm das Kommando, und ich begann schon, mich für meine Selbstbeherrschung zu beglückwünschen, als ich von der nächsten Wehe heimgesucht wurde. Der Schmerz tobte so grausam in mir, dass er all meinen Verstand ausschaltete. Ich ließ mich aufs Bett fallen. Wo blieb nur Hannes? Waren nicht schon etliche Stunden verstrichen, seit er mich hier so schmählich im Stich gelassen hatte?
So ging es eine Weile. Nach jeder Woge rasender Schmerzen kam ich in ein Wellental, in dem wieder alles normal schien und ich mich beruhigte, bevor der nächste Brecher über mir zusammenschlug. Die Abstände zwischen den Wehen wurden geringer, genauso, wie Agathe es mir beschrieben hatte, doch auf mein Zeitgefühl mochte ich mich nicht gern verlassen. Mittlerweile schien es mir ja auch Jahre her zu sein, dass Hannes aus dem Haus gegangen war. Oje, was, wenn ihm etwas passiert war? Wie sollte ich nur jemals das Kind ohne jegliche Hilfe zur Welt bringen? Aber, sagte ich mir in einem der immer seltener werdenden Momente von geistiger Klarheit, ich war doch sicher nicht die erste Frau, die in einer derart misslichen Lage steckte – die Natur musste es doch so eingerichtet haben, dass es auch ohne fremde Hilfe ging, oder?
Dann wieder trieb mir der Gedanke, ich müsste wie eine Katze die Nabelschnur durchbeißen, den Angstschweiß auf die Stirn. Nein, das würde nicht passieren. Ich rappelte mich auf und holte ein Messer, das ich zu dem Haufen Leinen legte. Dann schob ich einen Stuhl aus der Küche neben das Bett, nahm anschließend den Topf mit dem Wasser, das inzwischen kochte, vom Feuer und stellte ihn auf den improvisierten Nachttisch. Ich hatte jetzt alles, was man laut Christel und Agathe brauchte, in der Nähe. Ab sofort hätte ich nicht mehr viel Einfluss auf die Ereignisse. Das Kind würde kommen, ob nun Hilfe da war oder nicht, ob ich vor Furcht beinahe umkam oder nicht.
Ich hatte mich schon fast mit meinem Schicksal abgefunden, als ich Schritte und leises Murmeln von draußen vernahm. Froh war ich darüber nicht mehr – mir war alles egal. Ich wollte nur noch, dass das Kind sich endlich seinen Weg ans Licht der Welt bahnte. Wie, mit wessen Hilfe und unter welchen Umständen, war mir vollkommen gleichgültig. Auch hatte ich mittlerweile alle schamhaften Anwandlungen abgelegt. Von mir aus hätte der gesamte Männerchor aus Ahlweiler zugegen sein können, wenn denn ihr Gesang das Kind hätte hervorlocken können.
Christel trat ans Bett heran.
»Wo ist Hannes?«, fragte ich sie.
»Der soll draußen warten – Männer können das nicht gut verkraften.« Draußen bedeutete in diesem Fall wirklich draußen, also im Freien, denn unser Häuschen bestand ja nur aus einem einzigen Raum, in dem das Bett durch einen Vorhang von der Küche getrennt war.
»Es tut so weh«, jammerte ich. War ich, als ich mich noch auf mich allein gestellt glaubte, gar nicht wehleidig gewesen, so war ich es nun doppelt. Dass Christel mir die Hand drückte und meine Stirn mit einem feuchten Tuch abtupfte, hatte irgendeinen Widerstand in mir gelöst.
»Natürlich tut es das. Aber es dauert ja nicht mehr lang, und dann wird dich das Kind die Strapazen sofort vergessen lassen.«
Ich nickte ergeben.
Dann ging es los.
An die Einzelheiten erinnerte ich mich schon am nächsten Tag nicht mehr, es stellte sich mir vielmehr als eine lose Abfolge blutiger und übelriechender Vorgänge dar, die es gar nicht lohnen, dass man sie im Gedächtnis bewahrt. Ich weiß nur noch, dass sich die eigentliche Geburt ganz genauso anfühlte, wie ein Stuhlgang sich anfühlt, wenn man tagelang nicht konnte und dann alles auf einmal kam, wenn also großer Druck mit großer Erleichterung einherging. Darüber habe ich nie geredet, nicht einmal Hannes gegenüber habe ich es erwähnt, denn ich fand den Vergleich allzu derb. Ein so heiliges Ereignis wie die Geburt eines Menschen darf man nicht damit auf eine Ebene stellen. Trotzdem war es so.
Alle anderen hatten ebenfalls recht behalten. In dem Moment, als ich das kleine, blutige und mit weißer Pampe verschmierte Bündel aus mir herausflutschen fühlte und Christel sagen hörte: »Ein gesundes Mädchen!«, war alles vergessen. Die Schmerzen, die Angst, die Ungewissheit – wie weggeblasen. Ich war erschöpft und glücklich. Einzig die Tatsache, dass Christel meine Tochter unmittelbar nach der Geburt
Weitere Kostenlose Bücher