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Das Mädchen am Rio Paraíso

Das Mädchen am Rio Paraíso

Titel: Das Mädchen am Rio Paraíso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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Nachbarsfrauen bei der Geburt zugegen sein konnten. Die Vorstellung, allein auf Hannes’ Hilfe angewiesen zu sein, war mir ein Graus – als er mir vor zwei Wochen einen Holzsplitter aus dem Fuß hatte ziehen müssen, weil ich wegen meines Umfangs nicht mehr allein herankam, war er beinahe in Ohnmacht gefallen. Andererseits hatte ich natürlich ebenso wenig Lust darauf, dreißig Stunden in den Wehen zu liegen, wie es bei Christels Schwägerin wohl der Fall gewesen war.
    Christels eigener Kinderwunsch hatte sich bisher zwar nicht erfüllt, doch wenn man sie so reden hörte, konnte man glauben, sie hätte schon mindestens zehn kleine Gerhardse in die Welt gesetzt. Ich war darüber sehr froh, denn Christel wusste auf alle meine Fragen, und seien sie noch so dumm, eine Antwort. Sie war sehr fürsorglich und hatte sich auch bereit erklärt, mir später, wenn das Kind erst da war, mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Ihr Angebot, bis zu dem wahrscheinlichen Geburtstermin bei uns zu wohnen, hatte Hannes allerdings abgelehnt.
    »So wild wird es schon nicht werden. Außerdem kannst du Franz nicht so lange allein lassen.«
    Ich war ein bisschen beleidigt, weil er das Kinderkriegen als etwas so Normales abtat. Wenn unsere Kuh gekalbt hätte, wäre er wahrscheinlich besorgter gewesen. Zugleich war ich aber auch erleichtert. Es wäre mir sehr unangenehm gewesen, wenn Christel eine Woche oder länger bei uns hätte ausharren müssen, nur weil das Kind später als erwartet kam. Außerdem konnte ich mit solcher Aufopferungsbereitschaft nicht umgehen, schon gar nicht, wenn ich diejenige war, die in ihren Genuss kommen sollte. Ich war es nicht gewohnt, dass man mir half, sich um mich kümmerte, mich umsorgte.
     
    In der Nacht vom 23 . auf den 24 . Juni erwachte ich von einem scheußlichen Ziehen und Zerren in meinem Bauch. Ich dachte, ich hätte starke Blähungen, denn wir hatten Bohneneintopf gegessen, der leider diese Wirkung auf die Eingeweide hat. Der Schmerz hörte bald wieder auf, nur um wenig später mit noch größerer Wucht über mich herzufallen. Erst da ging mir auf, dass es sich um die Wehen handeln musste. Ich drehte mich auf die Seite – inzwischen schliefen wir nicht mehr in der Hängematte, sondern in einem schönen großen Bett, das Hannes gebaut hatte – und stieß Hannes an. Schlaftrunken hob er ein Lid.
    »Es geht los«, flüsterte ich.
    Schlagartig war er wach. Mit einem Satz war er aus dem Bett und in seine Kleider gesprungen.
    »Ich hole Christel«, sagte er. Ich merkte, dass er seine Aufregung vor mir zu verstecken suchte, was ihm aber nicht gelang. Allein, dass er so schnell wach geworden war, wo ich ihn morgens nur träge und langsam kannte, veranschaulichte seine Nervosität.
    »Nein, bitte bleib bei mir«, bettelte ich. »Was soll ich denn tun, wenn es kommt und keiner da ist?«
    »So schnell kommt es schon nicht«, behauptete er mit der Miene eines Mannes, der schon unzählige Kinder auf die Welt geholt hatte. Agathe und Christel hatten mir zwar dasselbe erzählt, dass nämlich zwischen dem ersten Zwacken im Bauch und der eigentlichen Ankunft des Kindes selbst bei einer schnellen Geburt noch viel Zeit verging, aber es war mir trotzdem nicht recht, dass Hannes mich allein lassen wollte.
    »Bitte.«
    »Christel ist dir eine viel größere Hilfe, als ich es bin«, sagte er und setzte seinen Hut auf. »Ich bin ja in spätestens einer Stunde wieder da, dann bist du froh, dass du dich nicht allein auf meine Hilfe verlassen musst.«
    Das stimmte allerdings. Trotzdem befürchtete ich das Allerschlimmste für genau diese Stunde, in der ich allein wäre.
    »Dann hol lieber Agathe Schmidtbauer. Ich glaube, die ist mir mit ihrer Erfahrung …« Weiter kam ich nicht. Ein jäher Schmerz wütete in meinem Innern. Ich krümmte mich und stöhnte. Das gab bei Hannes offensichtlich den Ausschlag: Er verlor kein weiteres Wort mehr und verschwand energischen Schrittes durch die Tür.
    Als ich allein war und der Schmerz wieder abklang, genauso abrupt, wie er gekommen war, ging ich zu unserer Kochstelle und erhitzte einen großen Topf mit Wasser. Dann holte ich alles an Leinen, was ich auftreiben konnte – Handtücher, Geschirrtücher, Tischdecken – und legte den Packen auf die Fußseite des Bettes. Ich machte mich auf den Ernstfall gefasst, und obwohl ich vor Angst heftiges Herzklopfen hatte, ging ich ruhig und mit Bedacht vor. Ich gab mir die größte Mühe, den kleinen Anflug von Selbstmitleid sich nicht zu

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