Das Mädchen am Rio Paraíso
halben Stunde. Alles war still. Nichts rührte sich. Kein Scharren aus dem Hühnerpferch, kein Gequieke von unseren beiden Schweinen, kein Weinen von Hilde aus dem Innern des Hauses. Es wirkte wie ausgestorben.
Ich sprang von dem Karren, noch bevor dieser vollständig zum Halten gekommen war. Mit gerafften Röcken rannte ich ins Haus, über alle Maßen besorgt. Doch es war nichts Fürchterliches passiert. Hannes lag auf dem Bett, fieberglühend. Hildchen krabbelte auf seiner Brust herum und machte nicht den Eindruck, als fehlte ihr etwas. Schlurfend betrat nun auch der »Apotheker« das Haus. Er trat in unsere Schlafkammer und reichte Hannes die Hand: »Sehr erfreut. Ich bin Professor Doktor Alfons Breitner.«
»Ein echter Professor!«, brachte Hannes in einem ebenso müden wie überraschten Ton hervor.
Ich war dem Professor Breitner dankbar dafür, dass er sich keinerlei Unsicherheit anmerken ließ, wenn er diese denn verspürt haben sollte. Er wirkte selbstbewusst, geradezu autoritär, und kompetent. Als Gelehrter würde er ja auch gewiss genug von der menschlichen Seele verstehen, um zu wissen, wann es ratsam war, den Doktor herauszukehren, und wann nicht. Mir hatte er offen anvertraut, dass er kein Arzt war. Hannes würde er das, wenn er klug war, nicht verraten.
Hannes fragte auch nicht weiter nach. Wie die meisten anderen Leute, wie ich selber auch, ließ er sich von den Titeln blenden. »Was fehlt mir, Herr Doktor?«, fragte er schwach. »Es war doch nur ein harmloser Kratzer.«
»Na, dann lassen Sie mal sehen.«
Ich hob Hilde vom Bett herunter. Der Professor krempelte Hannes’ Hosenbein auf und besah sich die Wunde. Es war kein sehr erfreulicher Anblick, aber der Doktor zuckte nicht mit der Wimper.
»Hm«, war sein einziger Kommentar.
»Ist es sehr schlimm?«, quengelte Hannes. Jetzt, da er sich in den erfahrenen Händen eines Mediziners glaubte, gestattete er sich so etwas wie Hilflosigkeit und Schutzbedürftigkeit. Ich konnte es ihm nachempfinden. Mir war es bei Hildes Geburt so ähnlich gegangen. Man hört automatisch auf, die Zähne zusammenzubeißen, wenn das sozusagen von höherer Stelle abgesegnet ist, in diesem Fall durch die Gegenwart eines Professors.
»Ja.« Alfons Breitner schürzte die Lippen zu einer Art Kussmund, der ihn sehr nachdenklich aussehen ließ. »Ja, leider lässt es sich kaum anders sagen: Es ist schlimm. Es ist einer der unschönsten Fälle von Sepsis, die mir je untergekommen sind.«
»Von was?«, fragten Hannes und ich gleichzeitig.
»Sepsis. Blutvergiftung. Wenn wir den Entzündungsherd nicht auf der Stelle ruhigstellen, werden Sie sterben«, sagte der Professor zu Hannes. »Dafür wiederum fehlen mir hier die entsprechenden Medikamente. Ich fürchte, die einzige Maßnahme, die jetzt noch greifen könnte, ist eine Amputation.«
»Sie wollen ihm das Bein abschneiden?«, fuhr ich ihn an. »Sie … Sie Biologe Sie! Was verstehen denn Sie schon davon? Haben Sie überhaupt schon einmal einen Menschen mit Blutvergiftung gesehen, oder waren das nur Kriechtiere im nördlichen Trockenklima?« Ich hätte mir im selben Moment auf die Zunge beißen mögen. Herrje, nun hatte ich selber verraten, dass der kompetente Herr Professor nichts weiter als ein verrückter Forscher war.
»Was meinst du?« Hannes sah mich fragend an. Er sah mitleiderregend aus, und mir fehlte der Mut, ihm die Wahrheit zu gestehen.
»Ach, nichts. Auf dem Weg hierher hat der Herr Professor mir ein wenig von sich erzählt. Weißt du, er ist ein sehr berühmter Gelehrter, der überall auf der Welt neue Arzneien erforscht. Es ist halt mit mir durchgegangen, als er gesagt hat, dass das Bein ab muss. Ich bin mir aber sicher, dass ihm noch eine andere Lösung einfällt, nicht wahr, Herr Professor?«
»Gewiss, gewiss. Lassen Sie mich einen Augenblick nachdenken. Bei einem Schluck Wasser, wenn Sie so nett wären?«
Ich verstand. Er folgte mir zu unserer Wohn-und-Ess-Stube, und ich schloss die Tür hinter uns.
Während ich ihm Wasser in einen von unseren guten Zinnbechern eingoss, legte er bereits los. »Es geht nicht anders. Bitte glauben Sie mir. Ich mag kein Arzt sein, aber ich habe genügend auf der Welt gesehen und erlebt, um mit absoluter Sicherheit die Diagnose stellen zu können sowie die Therapie zu bestimmen. Und ich sage Ihnen: Eine rasche Amputation des Beins bis etwa zur Mitte des Oberschenkels ist unumgänglich. Sonst verlieren Sie Ihren Mann.«
Ich ließ mir das Gesagte durch den Kopf gehen.
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