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Das Mädchen am Rio Paraíso

Das Mädchen am Rio Paraíso

Titel: Das Mädchen am Rio Paraíso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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der einer vorbeiziehenden Wolke. Ich versuchte zu erkennen, was es war, das mein gemütliches Dösen im Freien störte. Ein Mensch war es. Aber keiner, den ich kannte, also keiner von hier oder aus der Umgebung von Ahlweiler. Überhaupt konnte es kein Hunsrücker sein, denn die Person hatte braune Haut, war kaum bekleidet und hatte etwas im Ohrläppchen stecken, das wie ein Raubtierzahn wirkte.
    Mit einem Satz richtete ich mich auf. Nein, das war nicht mehr Teil eines schönen Traums. Vor oder besser über mir stand eine Indio-Frau, die ähnlich erschrocken war wie ich, denn sie wich einen Schritt zurück.
    Die Morgendämmerung war heraufgezogen. Ich konnte es nicht fassen: Die ganze Nacht hatte ich hier draußen gelegen und seelenruhig durchgeschlafen, ohne mich von der Gegenwart gefährlicher Tiere beeindrucken zu lassen. Oder der von Indianern. Ich reckte mich und stand auf. Die Indianerin sah mir neugierig, aber aus sicherer Entfernung zu. Sie hatte sich hinter einen Baum gestellt. Sie wirkte scheu, und meine Furcht vor ihr schwand dahin. Ich lächelte ihr zu. Sie lächelte zurück. Ich musste sehr an mich halten, um vor Schreck nun nicht meinerseits einen Schritt zurückzuweichen: Ihr Gebiss war grauenhaft, denn die Zähne liefen spitz zu, wie die eines Raubfisches. Alles andere an der Frau sah eigentlich nicht viel anders aus als bei uns Weißen, abgesehen von der Farbe der Haut, des Haars und der Augen natürlich. Die Indianerin war zierlich, von kleinem Wuchs, hatte stämmige Beine und hängende Brüste. Ihre Nacktheit schockierte mich weniger, als man vermutet hätte. Es passte zu ihr, es passte in den Dschungel. Wenn sie vollständig bekleidet gewesen wäre, hätte mich das viel mehr gewundert.
    Sie starrte mich genauso ungeniert an wie ich sie. Sie wagte sich hinter dem Baum hervor und zeigte aufgeregt auf mein Laken, mit dem ich mich in der Nacht bedeckt hatte und das noch auf der Erde lag. Was wollte sie? Das Laken ansehen? Es berühren? Oder geschenkt haben? Ich fand es äußerst merkwürdig, dass sie ausgerechnet einem so alltäglichen Gegenstand ihre Aufmerksamkeit schenkte, aber dann sagte ich mir, dass ich es ihr ja ruhig geben konnte, als Zeichen meiner Friedfertigkeit sozusagen. Vielleicht hatte es sich ja sogar bis zu den Indianern herumgesprochen, dass weiße Flaggen für friedliche Absichten stehen, wobei man das verschmutzte Laken nur mit sehr viel gutem Willen als weiße Flagge betrachten konnte. Ich hob es auf und streckte den Arm aus, um es ihr zu reichen. Sie trat vorsichtig vor, schnappte es sich dann so schnell, dass meine Augen dem Vorgang kaum folgen konnten, und wich erneut ein Stück zurück.
    Sie hielt es ausgebreitet vor sich, studierte es mit ernstem Gesicht, schnupperte daran, zog daran, wie um seine Reißfestigkeit zu überprüfen. Sie hängte es sich um ihre Schultern, wickelte es sich dann kichernd um die Taille wie einen Rock, legte es schließlich wie einen Schleier über ihren Kopf. Dann hielt sie es wieder vor sich. Sie sah ein wenig enttäuscht aus. Ob sie sich Wunderkräfte von dem Laken versprochen hatte? Vielleicht dachte sie, dass es ein besonderes Zaubertuch war, weil es mich die ganze Nacht vor Angriffen geschützt hatte?
    Dann schien sie einen neuen Einfall zu haben. Wieder legte sie sich das Tuch über den Kopf, doch diesmal sang sie dazu. Es erinnerte sehr entfernt an das »falleri, fallera« und das »hollahi, hollaho«, die ich letzte Nacht angestimmt hatte. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Bestimmt dachte die Frau, dass das Laken in Verbindung mit geheimen Formeln, die gesungen wurden, eine besondere Kraft hatte. Ich hätte ihr gern erklärt, dass dem nicht so war. Aber erstens würde sie mich wohl kaum verstehen, und zweitens sah ich nicht ein, warum ich sie nicht in dem Glauben lassen sollte. Es hatte schließlich gewirkt, oder nicht? Warum das so war, spielte keine Rolle. Vermutlich war den Geschöpfen des Waldes ein großes und vollkommen weißes Wesen beunruhigend erschienen, noch dazu eines, das verrückte Gesänge trällerte. Sie dürften sich aus Angst vor dem Unbekannten verzogen haben, nicht wegen der Magie des Tuchs.
    Ich sagte: »Ich heiße Klara.«
    Daraufhin quasselte die Frau munter in ihrer Sprache drauflos, von der ich kein Wort verstand. Als sie endete, kicherte sie wie verrückt. Ich fiel in ihr Lachen mit ein, dessen Grund ich zwar nicht kannte – obwohl mir schwante, ich selber müsse die Ursache für den Heiterkeitsausbruch

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