Das Mädchen am Rio Paraíso
sieht so aus.« Christel lachte. »Wenn wir so weitermachen, stehen wir heute Abend noch hier und widersprechen einander. Kommt, setzt euch. Die Dienstmagd sitzt ja schon, haha. Oder ist sie keine Sklavin? Na, ist ja auch egal. Wollt ihr was zu trinken? Habt ihr Hunger? Ich habe noch ein schönes Stück Marmorkuchen, und dazu eine Tasse Kaffee?«
Sie nahmen Platz am Küchentisch, und im selben Moment sprang Joaninha auf. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass bei diesen Leuten der Küchentisch nicht dem Personal vorbehalten war, sondern als Essplatz der Familie diente. Himmelherrgott, was war das nur für ein Gesindel?, fragte sie sich und flüchtete nach draußen.
Wenig später sah sie, wie die fremde Frau ebenfalls nach draußen stürzte. Joaninha dachte schon, diese Person sei hinter ihr her, doch dann beobachtete sie, wie die Frau auf die Felder hinauslief. Weißes Pack! Hatten diese Leute denn nicht einen einzigen Sklaven, den sie schicken konnten? Die Frau konnte doch nicht einfach ihre Gäste allein im Haus zurücklassen. Joaninha schüttelte den Kopf über diese Ungezogenheit und sonnte sich in dem Wissen, dass sie selber einem sehr viel feineren Haushalt entstammte.
Während Christel fort war, um Franz zu holen, saßen Klara und Raúl einander gegenüber am Küchentisch. Es war das erste Mal seit letzter Nacht, dass sie unter vier Augen waren – wenn man die von Hildchen nicht mitzählte. Das Kind saß bei seiner Mutter auf dem Schoß. Versonnen spielte Klara mit den haselnussbraunen Löckchen ihrer Tochter, die ihrerseits fasziniert den bestickten Halsausschnitt von Klaras Kleid untersuchte. Klara war froh über diesen besten aller Vorwände, Raúl nicht in die Augen sehen zu müssen.
»Wegen gestern …«, hob er an, aber sie ließ ihn nicht aussprechen.
»Sag nichts«, zischte sie. »Egal, was du zu sagen hast, es ist immer das Falsche.«
»Es war … grandios.«
Ja, das war es gewesen. Aber den Teufel würde sie tun, ihm das zu sagen. Ihr Gestöhne und ihre Lustschreie, mit denen sie wahrscheinlich das halbe Dorf geweckt hatte, hatten das ja wohl deutlich genug zum Ausdruck gebracht.
»Heirate mich.«
Was?! Jetzt endlich sah sie zu ihm hin. Machte er Scherze? Er konnte ihr doch nicht ernsthaft einen Antrag machen wollen, hier in Christels Küche, unmittelbar nachdem sie ihr Hildchen wiedergefunden hatte, gerade drei Monate nach Hannes’ Tod? Und das nur, weil er den Liebesakt mit ihr so sehr genossen hatte? Was für ein unfeinfühliger Holzklotz war er nur?
Bevor ihr eine Erwiderung einfiel, die der Unverschämtheit seines Vorschlags angemessen gewesen wäre, kam Christel mit Franz im Schlepptau zurück.
Franz zog seine Stiefel an der Schwelle aus und stapfte auf Socken zu dem Wasserkrug, aus dem er sich eine Kelle voll nahm. Er bedachte Klara und Raúl mit einem Nicken, so als säßen sie jeden Tag hier in seiner Küche. Dann wischte er sich mit einem Tuch über die Stirn und setzte sich an den Tisch.
»Klärchen Wagner. Das ist ja eine Überraschung«, sagte er in einem Ton, der vermuten ließ, er sähe regelmäßig Totgeglaubte. »Na, dann schieß mal los. Christel konnte mir auf dem Weg zum Haus nicht ein vernünftiges Wort sagen.«
Klara schluckte. Wenn man auf diese Weise aufgefordert wurde, eine hochspannende, selbsterlebte Geschichte zu schildern, musste doch jedem die Lust am Erzählen vergehen. Also fasste sie nüchtern zusammen: »Hannes und ich wurden überfallen. Ich bin bei meiner Flucht in den Bach gestürzt und fortgetrieben worden. Halbtot hat der Senhor Raúl mich am Ufer des Rio Paraíso gefunden. In seinem Haus haben er und seine alte Sklavin mich gesund gepflegt. Und jetzt bin ich wieder hier.«
»Mit deinem Retter.«
»Genau.«
Franz taxierte Raúl von Kopf bis Fuß. Ihm gefiel gar nicht, was er da sah. Zunächst einmal war der Mann kein Deutscher. Er sah nicht aus wie einer, und er sprach offenbar nicht ihre Sprache. Dann sah der Mann auch nicht aus wie ein Bauer. Zwar hatte er nicht die manikürten Hände eines feinen Pinkels aus der Stadt, aber wie jemand, der an harte Arbeit gewöhnt war, wirkte er nicht gerade.
»Jetzt starr ihn doch nicht so an. Das ist unhöflich«, maßregelte Christel ihren Mann.
Na ja, Christel hatte mal wieder recht, sagte Franz sich. Er würde sich weiter an die Weisheit halten, die er zu seinem Lebensmotto erkoren und die sich immer als goldrichtig erwiesen hatte: Man soll sich nie in anderer Leute Angelegenheiten einmischen. Was
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