Das Mädchen am Rio Paraíso
jemals diese Leute als Paten für ihre Tochter auswählen können? Sie stand auf, setzte Hildchen auf ihren Beckenknochen und verließ wortlos den Raum.
»Nein!«, schrie Christel. »Das Hildchen gehört jetzt uns! Du hättest sie ja in dem verdreckten Haus zurückgelassen. Ohne mich wäre sie verhungert oder hätte sich in euren ungewaschenen Laken stranguliert!« Sie lief auf Klara zu und versuchte, ihr das Kind zu entreißen. Raúl hinderte sie daran.
»Nimm deine dreckigen Hände von meiner Frau!«, ging nun Franz dazwischen.
Doch bevor das Ganze zu einer Schlägerei ausarten konnte, hörten Raúl und Klara die lauten Rufe Joaninhas. »Laufen Sie! Schnell!«
Überrascht drehten sie sich um – und glaubten ihren Augen kaum zu trauen. Das Mädchen hatte sich auf den Kutschbock gesetzt, hielt die Zügel des Pferdes, als hätte sie nie etwas anderes getan, und ließ nun den Wagen anrollen. Raúl zerrte Klara an einer Hand hinter sich her, nahm ihr das Kind ab, ließ sie zuerst in den Wagen steigen, um ihr dann ihre Tochter zu reichen und zuletzt selber auf den nunmehr schon schnell rollenden Wagen aufzuspringen.
Während Franz und Christel ihnen wutentbrannt Beleidigungen nachbrüllten, dachte Raúl noch immer kopfschüttelnd an die schnelle Reaktion des Sklavenmädchens. Diese Joaninha – wer hätte das gedacht? Damit hatte sie sich eine dicke Belohnung verdient. Vielleicht sogar die Freiheit.
Unterdessen überlegte Christel fieberhaft, wie sie sich ihre Freiheit bewahren konnte. Immer und immer wieder war sie die Ereignisse im Kopf durchgegangen. Und jedes Mal war sie zu demselben Schluss gekommen: Sie war unschuldig.
[home]
53
D er 10 . März 1827 war ein typischer Spätsommertag gewesen, mit drückender, feuchter Hitze, die ebenso klebrig auf dem Gemüt lastete wie auf der Haut. Die Verheißung eines Gewitters lag in der Luft, doch wer lange genug hier war, wusste, dass die Regenfälle ein Fluch waren und kein Segen. Die Feuchtigkeit kühlte nicht. Sie verwandelte sich nur in weiteren Dampf, der durch alle Poren drang, der in der kleinsten schlecht durchlüfteten Ecke den Schimmel wuchern und der Nahrungsmittel in kürzester Zeit verderben ließ. Diese schwüle Luft entzog allen, Mensch wie Tier, die Kraft und die Energie, die sie gerade jetzt am nötigsten brauchten. Denn die Natur explodierte förmlich – und damit war es nicht nur die heißeste, sondern auch die arbeitsreichste Zeit des Jahres.
Christel und Franz Gerhard waren um fünf Uhr in der Früh aufgestanden. Morgens war es immer noch einigermaßen erträglich mit dem Wetter. Sie frühstückten schnell und schweigend, dann, kaum war es hell geworden, machte Franz sich auf den Weg zu den Feldern. Christel blieb im und beim Haus. Bald wäre wieder Erntezeit, dann würde auch sie mit hinausziehen. Doch solange die Bohnen und das Rohr und der Tabak noch nicht reif waren, erledigte sie die traditionellen Frauenarbeiten. Sie versorgte das Vieh, pflegte das Beet mit dem Gemüse für ihren eigenen Bedarf, sammelte ein wenig Fallobst auf und warf es in den Schweinetrog, obwohl sie wusste, dass es den Tieren nicht sonderlich gut bekam. Sie wusch Wäsche, schrubbte das Haus, kochte das Mittagessen, zu dem Franz immer heimkam, und polierte schließlich gründlich ihren wertvollsten Schatz, wie sie es jeden Tag tat und der daher der Reinigung überhaupt nicht bedurfte: einen kleinen Schmuckanhänger aus Gold in Form eines Storchs, der ein Bündel im Schnabel hielt. Sie trug ihn nur zu besonderen Anlässen, sonst bewahrte sie ihn in der Truhe in der Schlafkammer auf. Sie hatte ihn vor der Abreise nach Brasilien von ihrer Schwester geschenkt bekommen, als Glücksbringer für eine mit vielen Kindern gesegnete Ehe.
Glücklich war ihre Ehe, mit Kindern gesegnet nicht. Christel litt sehr unter diesem Zustand. Franz schien es nicht so viel auszumachen, er tröstete sie ständig mit Bemerkungen wie »So haben wir wenigstens die Kammer für uns« oder »Ist auch besser, wenn wir noch etwas damit warten, die ganze Arbeit ist ja so schon kaum zu schaffen, und wenn du da noch einen Säugling zu versorgen hättest …«. Aber alles gute Zureden half nicht. Christel wollte Kinder. Ihr war unerklärlich, was mit ihr nicht stimmte. Seit der Pfarrer im Dorf war, beichtete sie regelmäßig. Sie führte ein gottgefälliges Leben, und das einzige Laster, dem sie frönte, war, dass sie die Nächte mit Franz vielleicht mehr genoss, als es ihr schicklich erschien. Aber
Weitere Kostenlose Bücher