Das Mädchen am Rio Paraíso
ihn auf mich zukommen. Er war bereits gefährlich nahe, aber seinen Gesichtsausdruck konnte ich nicht erkennen, weil die Sonne hinter ihm stand und mich blendete.
Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, dass da noch eine weitere Person zu sehen war, aber da drehte ich mich auch schon herum, um weiterzulaufen. Wahrscheinlich hatte das Spiel von Licht und Schatten mir etwas vorgegaukelt, was gar nicht da war. Erneut traf mich ein Stein, diesmal im Rücken. Ich stolperte, fing mich jedoch sofort wieder. In meiner wilden Verzweiflung schlug ich einen Weg ein, der mir völlig unbekannt war, mitten in den Urwald hinein. Äste peitschten mir ins Gesicht, dorniges Gestrüpp zerkratzte mir die Beine, die nackt unter meinem gerafften Rock hervorschauten. Immer wieder stolperte ich über freiliegendes Wurzelwerk, rannte in Lianen oder herabhängende Zweige hinein, verhedderte mich in Schlingpflanzen. Ich keuchte und hechelte. Ich spürte etwas über mein Gesicht laufen und war mir nicht sicher, ob es Tränen waren, Blut oder Schweiß oder alles zusammen. Mein Mund fühlte sich trocken an, mein Körper glühte und brannte. Der Schweiß rann mir in Strömen herunter. Aber vielleicht handelte es sich auch dabei um Blut. Ich gönnte mir nicht die kleinste Atempause, um an mir herabzusehen. Ich war wie ein Tier auf der Flucht: Ich bestand nur noch aus Überlebensinstinkt.
Dann beging ich den Fehler, mich im Laufen umzusehen. Ich hatte geglaubt, mir das leisten zu können, da weder ein Baum noch irgendein anderes größeres Hindernis zu sehen war. Doch als ich wieder nach vorn schaute, war es bereits zu spät: Vor mir lag ein Fluss, kaum breiter als ein Bach. Ich konnte mich nicht schnell genug abbremsen, geriet an der Uferböschung ins Torkeln und fiel schließlich kopfüber ins Wasser.
Ich verlor den Boden unter den Füßen und schlug wie wild um mich. Ich ging unter, atmete Wasser ein, kam spuckend und gurgelnd nach oben und fuchtelte mit den Armen herum, um nach dem nächstbesten schwimmenden Gegenstand zu schnappen, einem morschen Baumstamm oder was auch immer. Aber ich griff immer wieder ins Leere, tauchte immer wieder unter. Meine Lungen füllten sich mit Wasser. Ich geriet zunehmend in Panik. Wenn ich ruhig Blut bewahrt hätte, wer weiß, vielleicht hätten meine Schwimmkenntnisse ausgereicht, um mich retten zu können. So jedoch, zappelnd und um mich schlagend, trieb ich meinen Untergang nur noch schneller voran. Mein Kleid zog mich tiefer nach unten, doch mir fehlten die Ruhe und die Kaltschnäuzigkeit, mich unter Wasser zu entkleiden.
Besonders tief war der Fluss nicht, denn als ich schon dachte, nun wäre es um mich geschehen, berührten meine Füße den Boden. Ich stieß mich kraftvoll ab und kam an die Oberfläche, allerdings nur gerade lange genug, um Luft zu holen. Dann zog es mich wieder in die Tiefe. Aber aus dem Augenwinkel hatte ich etwas gesehen, was mir Auftrieb gab. Ein altes Kanu lag schief an der Uferböschung. Vielleicht hatte ich es mir auch nur eingebildet, doch allein die Hoffnung, dass keine drei Meter von mir entfernt die Rettung liegen konnte, verlieh mir unglaubliche Kräfte. Erneut stieß ich mich vom Grund ab, und diesmal versuchte ich mich in die Richtung abzudrücken, in der ich das Kanu vermutete. Ich kam hoch, schnappte nach Luft, und sah es wieder. Tatsächlich: Ich war näher dran diesmal.
Das ganze Spiel wiederholte sich noch einige Male, bis es mir endlich gelang, mich mit einer Hand am Rand des Kanus festzuhalten. Es kippte dabei um, aber das war mir egal. Ich wollte ja nicht etwa mit dem Ding fahren, sondern mich nur daran festhalten und versuchen, so das rettende Ufer zu erreichen. Ich klammerte mich verzweifelt an den vermoderten Holzbohlen fest, die nicht so aussahen, als würden sie einer solchen Belastung sehr lange standhalten. Das Bötchen war vollkommen verrottet, und ich fürchtete, dass es in Kürze untergehen würde.
Da ich das Kanu aus seinem Schilfnest gezerrt hatte, schwamm es nun ebenfalls – und zwar in der Mitte des Flüsschens. Ich paddelte wie verrückt mit Beinen und Füßen, aber die Strömung war zu stark: Das Ufer schien zum Greifen nah – und doch in unerreichbarer Ferne. Also ließ ich mich treiben, in der Hoffnung, dass sich demnächst irgendeine andere Lösung abzeichnen würde. Doch das Gegenteil war der Fall.
Zunächst glaubte ich, nur wegen der großen Anstrengung ein Rauschen in meinen Ohren zu vernehmen. Dann, als sich der Fluss zusehends in
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