Das Mädchen am Rio Paraíso
sollten.
»Wir dachten alle, du wärst tot.«
»Ja, beinahe wäre ich auch gestorben. Aber der Senhor Raúl«, dabei deutete sie auf ihn, und er machte eine leichte Verbeugung, »hat mich gerettet. Das erzähle ich dir später alles ganz genau, jetzt muss ich zuerst das Hildchen sehen.«
»Ja, ja, natürlich. Komm mit. Sie ist drin, in der Küche.« Christel rieb weiter ihre Hände an der Schürze, offenbar vor Aufregung.
»Warte. Ich will sie nicht gleich so erschrecken.« Klara tappte auf Zehenspitzen über die Veranda zu dem geöffneten Küchenfenster. Ihr Herz schlug hart und unregelmäßig, so aufgeregt war sie. Sie spähte vorsichtig durch das Fenster – und hätte beinahe aufgeschluchzt vor Erleichterung.
Auf den blankgescheuerten Dielen saß ihr Hildchen, kaum anders anzusehen als vor drei Monaten, höchstens hübscher und dicker. Sie spielte hingebungsvoll mit einem Stricktier, dem sie kleine Liedchen in einer unverständlichen Kleinkindersprache vorsang. Jetzt ließen sich Klaras Tränen nicht länger zurückhalten. Sie rannte über die Veranda, stieß die Haustür auf, die direkt in die Küche führte, und rief heiser: »Hilde! Hildchen!«
Das Kind blickte sie für eine Sekunde verstört an, bevor sich so etwas wie Erkennen in seinem süßen Gesichtchen abzeichnete. Klara nahm ihre Tochter hoch, herzte und küsste sie, drehte sich mit ihr im Kreis und ließ sich auch nicht von dem irritierten Ausdruck der Kleinen davon abbringen, sie wieder und wieder zu küssen. »Wie du gewachsen bist, meine süße Kleine! Ich war doch nur drei Monate fort – Himmel, du bist kaum wiederzuerkennen!«
Hätte Hildchen sich ebenso wortreich äußern können, hätte sie ihrer Mutter dasselbe gesagt: dass nämlich sie, Klara, erst recht kaum wiederzuerkennen war. Sie roch anders, sie fühlte sich anders an, weniger knochig, und sie trug andere Kleidung. Aber ihre Stimme hatte sich nicht geändert – und Hildchen, freundliche Natur, die sie nun einmal war, belohnte die bekannte Stimme mit einem strahlenden Lächeln.
Klara heulte vor Freude und Erleichterung. Auch die Umstehenden – Christel, Raúl und Joaninha –, deren Gegenwart Klara ganz vergessen hatte, waren sehr gerührt. Christel beugte sich nach vorn und wischte sich die Tränen mit der Schürze aus den Augen, Joaninha flennte drauflos und wurde erst ein wenig ruhiger, als ihr Dienstherr ihr ein Taschentuch gereicht und einen tadelnden Blick zugeworfen hatte.
Klara tanzte mit ihrer Tochter im Kreis und konnte sich gar nicht mehr beruhigen über das propere, schöne, gesunde, hübsch gekleidete Kind auf ihren Armen. Erst als ihr von dem vielen Herumwirbeln ein wenig schwindlig wurde, hielt sie inne, schaute um sich und entdeckte ihr Publikum.
»Hier, schau sie dir an, Raúl! Ist sie nicht ein Wonneproppen?« Dabei streckte sie Raúl das Kind hin, als solle er es heben. Aber das würde er gewiss nicht tun. Er schrak zurück. Herrje, was bedrängte sie ihn denn so? Er wollte das Kind nicht tragen – am Ende würde er es noch zerquetschen oder fallen lassen.
Doch dann sah Hildchen ihm in die Augen, lächelte und streckte die dicken Ärmchen nach ihm aus. Ach du liebe Güte, er würde ja wohl müssen … Unwillig nahm er das Mädchen auf den Arm, das anscheinend einen Narren an ihm gefressen hatte und fortwährend nach seiner Nase griff, an seinen Ohren zerrte und völlig fasziniert von seinem schwarzen Haar war, an dem es kräftig zog.
Joaninha kicherte.
»Hier, da. Nimm du sie doch, mal sehen, ob du das auch noch so komisch findest, wenn sie deine Haare ausreißt.« Ungelenk stellte er der Sklavin, die sich unaufgefordert an den Küchentisch gesetzt hatte, das Kind auf den Schoß.
Hildchen war begeistert über all die Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wurde. Sie hüpfte auf den Oberschenkeln der Schwarzen herum, lachte ausgelassen und wedelte dabei mit den Armen. Joaninha setzte sie sich rittlings auf den Schoß und wollte Hoppereiter mit ihr spielen, als Klara sich ihre Tochter schnappte und sie erneut an sich drückte.
Klara war ein wenig enttäuscht, dass Hildchen nicht nur sie so stürmisch begrüßt hatte, sondern allen anderen mit derselben Fröhlichkeit begegnete. Aber sie wurde von Christels Worten von weiterem Grübeln abgehalten.
»Nicht zu glauben, dass du in der kurzen Zeit so gut Portugiesisch gelernt hast!«
»Es ist gar nicht gut.«
»Aber es klang gut. Und dein fescher Verehrer …?«
»Er ist nicht mein Verehrer.«
»Aber es
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