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Das Mädchen am Rio Paraíso

Das Mädchen am Rio Paraíso

Titel: Das Mädchen am Rio Paraíso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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einen reißenden Strom verwandelte, wurde mir klar, dass das Rauschen nicht aus meinem Innern, sondern von draußen, von vorn kam. Als ich die Stromschnellen erreichte, war es zu spät, einen anderen Ausweg zu suchen: Das Kanu und ich wurden mit in die Tiefe gerissen.
    Die gewaltige Kraft des Wassers entsetzte mich und erschien mir zugleich tröstlich. Mir schien, dies sei ein besseres Ende als jenes, das mir daheim gedroht hatte. Das Wasser begrub mich unter sich, schleuderte mich herum. Ich konnte nichts, aber auch gar nichts tun. Der Sog des Wassers war einem schwindelerregenden Tanz nicht unähnlich, und ich begann Gefallen an diesem Rhythmus des Untergangs zu finden, bei dem mein Haar schwerelos um meinen Kopf waberte und mein Herz sich plötzlich ganz leicht anfühlte.
    Dann schlug mein Kopf gegen einen Felsen, und mir wurde schwarz vor Augen.

[home]
51
    A uf der Weiterfahrt zu den Gerhards berichtete Klara Raúl jede Einzelheit, die ihr wieder eingefallen war. Er löcherte sie mit Fragen, aber zu der geheimnisvollen Person, die sie zu sehen geglaubt hatte, konnte sie ihm beim besten Willen nicht mehr erzählen als das, was sie bereits gesagt hatte. Wahrscheinlich war gar niemand da gewesen. Die Sonne hatte sie geblendet; sie hatte von dem Stein, der sie getroffen hatte, Sterne gesehen; sie hatte sowieso nur einen Wimpernschlag lang in die Richtung geschaut – nein, alles wies darauf hin, dass sie sich diese Person eingebildet hatte.
    Weiterhin wollte er wissen, was es mit diesem Kanu auf sich hatte. Ob sich vielleicht doch ein Indio in der Nähe herumgetrieben haben konnte? Unwahrscheinlich, unterbrach Klara seinen Gedankengang – das Kanu war so morsch gewesen, dass es zum Fahren nicht mehr getaugt hatte. Doch Raúl ließ nicht locker. Er versuchte alles aus ihrem Gedächtnis zu quetschen, was sich dort noch verborgen halten mochte. Zum Glück dauerte die Fahrt zu den Nachbarn nicht lange. Raúl hätte sie womöglich mit weiteren Fragen gequält, auf die sie keine Antwort wusste und auf die sie sich nicht wirklich konzentrieren konnte. Zu sehr war sie in Anspruch genommen von der ängstlichen Vorfreude auf das Wiedersehen mit Hildchen.
    Wie sehr sie den Augenblick herbeisehnte, in dem sie ihre Tochter in die Arme schließen konnte! Und wie sehr sie ihn fürchtete! Würde sich die kleine Hilde überhaupt noch an ihre Mutter erinnern? Würde sie ihr die lange Abwesenheit verzeihen? Klara bekam feuchte Augen bei dem Gedanken an all die körperlichen und seelischen Veränderungen, die ihr Hildchen erfahren haben mochte. Hatte sie weitere Zähne bekommen? War ihr weiches Haar gewachsen? Konnte sie Worte brabbeln, die sie vor drei Monaten noch nicht beherrscht hatte? Oder hatte es ihr angesichts des plötzlichen Verlustes von Vater und Mutter gänzlich die Sprache verschlagen? Klara nahm all ihre Kraft zusammen, um nicht laut herauszuheulen und mit ihrem verweinten Gesicht dem armen Kind womöglich einen weiteren Schrecken einzujagen.
    Sie erreichten die Parzelle von Christel und Franz gegen Mittag. Der Gegensatz zu dem, was sie soeben auf der Wagnerschen Parzelle zu sehen bekommen hatten, hätte nicht größer sein können. Haus und Hof waren gepflegt und machten einen einladenden Eindruck. Die Hühner waren fett, in dem Gemüsegärtchen bogen sich die Tomatensträucher unter der Last der prallen Früchte, und aus dem Haus hörte man Christel fröhlich vor sich hin trällern. Der Duft von gebratenem Fleisch drang aus dem Küchenfenster nach draußen.
    Als sie das Geräusch der Wagenräder auf dem Hof vernahm, wischte Christel sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und trat vor die Tür. Mit ihrer sauberen Schürze und dem geschäftigen Gehabe war sie der Inbegriff der tüchtigen Hausfrau. Sie lächelte – Besuch war immer willkommen. Auf den ersten Blick wunderte sie sich über das merkwürdige Trio, das da auf dem vornehmen Wagen angekommen war. Eine Negerin war sogar dabei, Jesus und Maria! Dann fiel ihr Blick auf die gutgekleidete Frau – und sie wurde starr vor ungläubigem Erkennen. Sie schlug ein Kreuz vor ihrer Brust und flüsterte: »Das kann nicht sein … Lieber Gott im Himmel, lass diesen Traum vorübergehen!«
    »Es ist kein Traum. Ich bin es wirklich, Christel.« Klara ging mit ausgebreiteten Armen auf die Freundin zu. Erst da löste Christel sich aus ihrer Erstarrung. Sie drückte Klara an sich, schniefte und murmelte zusammenhanglose Worte, die ihrer Bestürzung Ausdruck verleihen

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