Das Mädchen am Rio Paraíso
er war ja ihr Ehemann, so verkehrt konnte das also nicht sein. Außerdem mussten sie ja am Nachwuchs »arbeiten«. Doch so oft und so stürmisch sie sich liebten, nichts geschah. Christel fühlte sich wie eine verdorrte Pflaume. Dass es an Franz liegen könnte, schien ihr mehr als unwahrscheinlich. Kinderkriegen war schließlich Frauensache, da musste Keinekinderkriegen es doch auch sein.
Manchmal überfiel sie eine wahnwitzige Trauer, etwa beim Anblick von Klärchens süßer Tochter, doch meistens verdrängte sie den Gedanken an ihren unerfüllten Kinderwunsch. Denn die meiste Zeit des Tages war Christel von ihrer Arbeit viel zu sehr in Anspruch genommen. Heute zum Beispiel. Es lagen alle möglichen Dinge an, die nicht zu ihren alltäglichen Pflichten gehörten. Einen Kuchen wollte sie backen, mit dem sie Johann Wackernagel zu dessen Geburtstag ihre Aufwartung machen wollten. Eine Gardine wollte sie nähen, um ihrem Heim eine behaglichere Note zu verleihen – Franz hatte in São Leopoldo günstig einen Ballen fest gewebter Baumwolle erstanden. Und das alles bis nachmittags, denn gegen Abend wollten sie und Franz noch bei den Wagners vorbeischauen.
Christel hatte ihren Mann bekniet, dass sie endlich einmal hinfahren und nach dem Rechten sehen sollten. Und zwar unangemeldet. Es war unheimlich, was bei ihren Freunden passierte. Und sie wusste schon längst nicht mehr, wem der beiden sie glauben sollte. Sollte Hannes, der brave, lustige, leutselige Hannes, wirklich ein brutaler Schläger sein? Unvorstellbar. Aber konnte Klärchen, das kluge, zupackende, fröhliche Klärchen, sich diese Dinge einfach nur einbilden? Genauso unvorstellbar. Und wie sie ausgesehen hatte, als sie vor ein paar Tagen hier vorbeigekommen war! Scheußlich. Solche Verletzungen fügte sich doch wohl kein Mensch, der geistig gesund war, selber zu. Sie, Christel, hatte die Sache vor Franz nicht so aufbauschen wollen, denn sie wusste, was er davon hielt, wenn andere Leute ihre Eheprobleme vor aller Welt ausbreiteten: überhaupt nichts.
Und genau darum hatte er auf ihren Vorschlag hin, sich mal bei den Wagners umzusehen, gegrummelt: »Das ist nicht unsere Angelegenheit. Halt dich da raus, Christel.«
»Aber wir können doch nicht einfach zusehen, wie er sie zu Tode quält.«
»Na, das kann ich mir beim Hannes aber nun wirklich nicht vorstellen. Vielleicht ist ihm mal die Hand ausgerutscht, schön. Aber das ist ja nur sein gutes Recht.«
»Es ist aber auch seine Pflicht, seine Frau zu ehren.«
»Er ehrt sie doch. Er redet in der Öffentlichkeit nicht schlecht über sie, sondern macht sich, im Gegenteil, ernsthafte Sorgen um ihren Gemütszustand. Und er nimmt ihr das Kind ab, wann immer er kann, was sie doch ziemlich entlasten müsste.«
Christel wirkte nicht überzeugt. »Trotzdem. Mir kommt das alles komisch vor. Es passt so gar nicht zu dem Klärchen, das ich kenne, dass sie Opfer irgendwelcher Hirngespinste ist. Ich habe sie immer für sehr bodenständig gehalten und für ehrlich obendrein. Sie denkt sich das doch unmöglich alles aus.«
»Wie auch immer«, sagte Franz in einem Ton, der das Ende des Gesprächs ankündigen sollte, »es geht uns nichts an.«
Aber Christel gab sich damit nicht zufrieden. »Nein, ihre Ehe geht uns vielleicht nichts an. Aber unser Patenkind schon. Wenn Hildchen in diesem Haushalt etwas zustößt, und sei es nur, weil sie mit Milchkannen um sich werfen und aus Versehen das Kind treffen, dann müssen
wir
uns Vorwürfe machen.«
Sie argumentierte noch weiter in dieser Richtung, bis Franz schließlich nachgab. »Also gut, dann fahren wir eben mal vorbei. Wäre eh nett, die beiden mal wieder zu besuchen. Vor lauter Arbeit kommt man ja zu sonst nichts mehr.«
Heute also wollten sie, im Anschluss an den Besuch bei Wackernagels, die Wagners aufsuchen. Vielleicht, dachte Christel, sollte sie gleich zwei Kuchen backen, denn das arme Klärchen wusste ja nicht mehr aus noch ein, seit Hannes als Ernährer ausgefallen war. Sie hatte sich nie darüber beklagt, aber Christel kannte die Anzeichen von mangelnder oder mangelhafter Ernährung allzu gut. Früher, im Westerwald, waren fast alle in ihrer Familie mit fahler Haut, Haarausfall, schlechten Zähnen, Mundgeruch oder Ausschlag gestraft gewesen, alles Dinge, die vom Hunger rührten. Ja, einen leckeren Obststreuselkuchen würde sie Klärchen und Hannes mitbringen, mit dicken Streuseln aus reichlich Butter und Zucker und dem guten Weizenmehl, von dem sie noch einige wenige
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