Das Mädchen am Rio Paraíso
Klärchen war etwas passiert, etwas Schlimmes. Oh Gott, wenn bloß dem Hildchen nichts zugestoßen war! Sie liebte das Kind wie ein eigenes, und sie hatte sich bereits ein paarmal dabei ertappt, dass sie sich wünschte, Hannes und Klärchen möge etwas zustoßen, damit sie in den Genuss ihrer Pflichten als Patentante kam. Christel bekreuzigte sich. Neid war eine Todsünde, und anderen Menschen Böses zu wünschen, um ihres Kindes habhaft zu werden, war ganz sicher etwas, wofür sie in der Hölle schmoren musste. Nein, eigentlich wünschte sie ihren Freunden auch nichts Schreckliches an den Hals. Nicht wirklich.
Sie erreichte das Grundstück der Wagners am späten Nachmittag. Die Sonne stand schon sehr schräg, in einer Stunde würde sie untergehen. Christel lenkte den Ochsenkarren auf die verwilderte Fläche vor dem Haus. Himmel, wie es hier aussah! So erbärmlich hatten ja nicht einmal die Kerns gehaust, und das waren die mit Abstand elendesten Gestalten im ganzen Oberwesterwald gewesen. Ein paar zerrupfte Hühner stapften lahm durch das Unkraut, vor dem Haus sammelte sich Unrat. Die Haustür, die schief in ihren Angeln hing, stand offen. Christel rief die Namen der Bewohner, aber sie erhielt keine Antwort. Sie ging zu den Stufen vor dem Eingang und stieß dabei gegen einen zerbeulten Eimer, der ein Scheppern von sich gab. Unmittelbar darauf hörte sie von drinnen Hildchen weinen. Christel rannte hinein. An zurückhaltendes Klopfen oder zaghaftes Rufen verschwendete sie nun keinen Gedanken mehr. Sie entdeckte das Kind auf dem Ehebett, inmitten gräulicher, zerwühlter Laken.
»Scht, mein Kleines, Tante Christel ist jetzt da«, hauchte sie dem Mädchen ins Ohr, nahm es hoch und wiegte es sanft in ihren Armen. Das Geheule verstummte sofort. Christel betrachtete das Kind genau, konnte jedoch keinerlei Anzeichen von Gewalt oder Verwahrlosung entdecken. Hildchen war gut genährt, sauber und gesund. Wenn Hannes und Klärchen auch sich selber und ihren Hof nicht in Schuss hielten – dem Kind ließen sie es an nichts mangeln. Sie küsste Hildchen, streichelte ihre Stirn, spielte mit ihren weichen Füßen herum und drehte sich mit ihr im Kreis, ein altes Kinderlied summend. Während sie sich so drehte, warf sie einen Blick durchs Fenster – und ließ vor Schreck beinahe das Kind fallen. Da draußen, ziemlich weit vom Haus entfernt, aber noch eindeutig zu erkennen, stand Hannes. Er war auf der linken Seite auf seine Krücke gestützt, mit dem rechten Arm holte er weit aus, als wolle er etwas werfen.
Christel kniff die Augen zusammen, doch sie vermochte nicht genau zu erkennen, was er da trieb. Verjagte er irgendwelche Einbrecher? Angeblich sollten ja ein paar Indios hier herumschleichen und die neuen Siedler bestehlen. Nicht, dass sie selber schon jemals so etwas erlebt hätte, aber man wusste ja nie. Vielleicht brauchte Hannes Hilfe. Behutsam legte sie Hildchen wieder auf dem verlotterten Bett ab. Dann griff sie nach dem Schürhaken, straffte die Schultern und ging hinaus.
Je näher sie Hannes kam, desto besser konnte sie ihn hören. Und was er da brüllte, galt gewiss keinem diebischen Indianer. »Du Hure, du elende! Du Schlampe, renn doch, ja, zeig mir, wie viel schneller du bist als dein Mann, den du zum Krüppel gemacht hast! Aber es wird dir nichts nützen. Ich bring dich um, du Teufelin!« Christel stockte der Atem. Niemals hätte sie Hannes solche Hasstiraden zugetraut. Niemals hätte sie überhaupt vermutet, dass solcher Hass in ihm wütete oder dass er Klärchen die Schuld an seiner Versehrtheit gab. Genau genommen hatte sie doch durch ihr beherztes Handeln sein Leben gerettet.
Vorsichtig geworden angesichts dieser ungezügelten Wut, schlich Christel sich nun auf Zehenspitzen heran. Hannes brauchte keine Hilfe im Kampf gegen Eindringlinge – es war vielmehr Klärchen, der sie jetzt beistehen musste, wo auch immer diese sich versteckte. Christel spähte in das grüne Dickicht, das sich am Ende des verwahrlosten Feldes wie eine Mauer erhob, konnte sie jedoch nirgends entdecken. Aber weit konnte sie nicht fortgelaufen sein, denn sonst hätte Hannes sicher längst aufgehört mit dem Getobe. Christel hatte furchtbare Angst. Wenn Hannes sich umdrehte und sie mit dem Schürhaken in der Hand sah, würde er seinen Wahnsinn bestimmt an ihr auslassen.
Sie stand keine drei Schritte mehr von ihm entfernt, als er schrie: »Lauf doch zu deinem Friedhelm! Lauf zu Christel und Franz oder wohin auch immer. Kein Mensch
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