Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Mädchen am Rio Paraíso

Das Mädchen am Rio Paraíso

Titel: Das Mädchen am Rio Paraíso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
Vom Netzwerk:
vorn, Klara und Joaninha hinten. Dann trabten sie los. Sie verließen das Dorf in westlicher Richtung. Schon nach wenigen Minuten hatten sie die letzten Häuser hinter sich gelassen. Es war wirklich noch ein sehr kleines Dorf, dachte Klara. Aber der Strom der Einwanderer riss nicht ab, irgendwann wäre São Leopoldo ein großes Dorf, dann vielleicht, in ferner Zukunft, eine florierende Kleinstadt. Ob sie das noch erleben würde? Nun, Hildchen würde es gewiss tun. Eines Tages wäre sie eine bildhübsche junge Frau, und bis dahin wäre São Leopoldo sicher ein quirliges Dorf, mit Kirmes und Tanzveranstaltungen und Geschäften, in denen es bunte Bänder und allerlei Tand zu kaufen gab. Die jungen Burschen würden sich um Hilde reißen, und sie, Klara, würde mit Argusaugen darüber wachen, wer ihrer Kleinen den Hof machte. Sie würde auf keinen Fall zulassen, dass Hildchen sich einem Nichtsnutz an den Hals warf, der gern einen über den Durst trank und nichts weiter zu bieten hatte als schöne Worte und ein hübsches Gesicht. Was daraus entstand, hatte sie selber schmerzhaft erfahren müssen.
    Vielleicht fand sie ja ebenfalls noch einen netten Mann, mit dem zusammen sie ihr Leben besser würde meistern können. Sie war dreiundzwanzig Jahre alt. Jung genug, um weitere Kinder zu bekommen, und ganz sicher noch nicht alt genug, um den Freuden des ehelichen Beisammenseins zu entsagen. Friedhelm nähme sie vielleicht, trotz Kind und trotz ihres ramponierten Rufs. Klaras Blick umwölkte sich. Was sollte sie mit Friedhelm? Sie liebte Raúl! Aber den konnte sie nicht haben. Es war ausgeschlossen, dass er mit ihr hier in der Colônia blieb, aber ebenso ausgeschlossen war es, dass sie mit ihm zog. Sie gehörte nicht in seine Welt. Sie wäre ewig eine Fremde. Sie sah anders aus als die Brasilianer, sie sprach anders, sie fühlte wahrscheinlich sogar anders. Sie kam aus einfachen Verhältnissen und würde sich nie im Leben anmaßen, über einen Haushalt wie den seinen in Santa Margarida zu walten. Es war schlichtweg ein Ding der Unmöglichkeit.
    Sie würde Raúl nur unglücklich machen. Sie würde zur falschen Zeit die falschen Dinge sagen oder tun und ihn damit vor seinen Freunden oder Geschäftspartnern bloßstellen. Sie würde sich bei Tisch nicht so zu benehmen wissen, wie es bei reichen Leuten üblich war. Sie würde lauter undamenhafte Sachen anstellen und für ihre bäurische Art verspottet werden. Allein bei dem Gedanken, einer Frau wie Josefina als Gleichgestellte gegenüberzustehen und mit ihr plaudern zu müssen, brach Klara der Angstschweiß aus.
    Und Raúl?
    Nach ein oder zwei Jahren wäre er ihrer doch ohnehin überdrüssig. Die fleischliche Leidenschaft hätte dann spürbar nachgelassen, und darüber hinaus verband sie ja nicht viel. Er würde sie hassen, irgendwann. Er würde sich ihrer schämen. Er würde lange Reisen unternehmen, ohne sie, und sie säße in dem schönen großen Gutshaus der »Herdade da Araucária« und würde sich zu Tode grämen. Sie würde vor Kummer vorzeitig alt und grau werden. Dann würde …
    »Wohin führt dieser Weg?« Raúl drehte sich zu ihr um und wunderte sich einen Augenblick lang über ihr trauriges Gesicht.
    »Was?«
    »Die Abzweigung hier, wohin führt sie?«
    Klara sah sich um und hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden. Sie war so tief in Gedanken gewesen, dass sie nicht auf den Weg geachtet hatte. Die Sonne hing gelb und groß am Himmel direkt vor ihnen. Sie waren auf der Straße nach Westen. Wenn sie etwa eine Viertelstunde unterwegs gewesen waren, dann wäre die Abzweigung diejenige, die zu dem Hof der Kleinmeisters führte. Waren sie aber schon weiter gefahren, dann führte der Weg vielleicht zu dem Grundstück der Ungerers, wo sie ja vorgeblich hinwollten.
    »Ich weiß es nicht. Fahr einfach rein, bis wir das Haus sehen. Dann kann ich es sagen.«
    Raúl tat, wie ihm geheißen. Nach zwei Minuten erspähten sie in der Ferne ein Fachwerkhäuschen, das für ihn genauso aussah wie all die anderen, die er bisher gesehen hatte.
    »Das ist das Haus von Johann Ungerer und seiner Familie. Lass uns wieder ein Stück zurückfahren und anhalten. Wenn uns einer sieht, sagen wir, dass wir zu ihm wollten und eine Panne hatten.« Klara hatte plötzlich das sehr befremdliche Gefühl, dass sie sich benahmen wie Halbwüchsige, die heimlich eine von Vaters geklauten Zigarren rauchten. Die ganze Situation war lächerlich. Sie wollten sich doch nur unterhalten, oder? Sie waren beide erwachsen,

Weitere Kostenlose Bücher