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Das Mädchen am Rio Paraíso

Das Mädchen am Rio Paraíso

Titel: Das Mädchen am Rio Paraíso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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Betten und sehnten den anderen herbei. Doch keiner von beiden betrat das Zimmer des anderen.
     
    Am folgenden Morgen sah Klara unausgeschlafen aus, mit blasser Haut und Ringen unter den Augen. Sie war in aller Herrgottsfrühe aufgestanden, um nun endlich das zu tun, was sie gleich nach ihrer Ankunft in São Leopoldo hätte tun sollen: Sie besuchte Hannes’ Grab.
    Hinter der Kirche war ein kleines Grundstück als Friedhof auserkoren worden. Bisher befanden sich dort jedoch erst drei Gräber, stellte Klara fest. Sie trat an das einzeln stehende Kreuz heran, das sie für Hannes’ Grab hielt. Aber dort ruhte ein Kind, nämlich das der Deschlers, das gerade einmal drei Tage alt geworden war. Sie bekreuzigte sich und fühlte eine tiefe Traurigkeit in sich aufsteigen. Ein Kind zu verlieren, hieß es, sei das Schlimmste, was einer Mutter passieren könne. Sie wollte sich gar nicht erst vorstellen, wie es wäre, wenn Hildchen vor ihr selber stürbe.
    Klara ging weiter zu dem anderen Grab. Sie las die Namen auf dem Kreuz – und war so erschüttert, dass ihre Beine wegsackten. Ein Beobachter hätte glauben können, sie knie zum Gebet nieder.
    »Hier ruhen Johannes Lorenz Wagner, 4 . April 1801  – 10 . März 1827 , und seine geliebte Frau, Klara Helene Wagner, geborene Liesenfeld, 21 . November 1803  – 10 . März 1827 .
    Die Sonne sank, bevor es Abend wurde.
«
    Oh Gott! Als es hieß, man habe sie zu Grabe getragen, hatte Klara das im übertragenen Sinn verstanden. Aber sie hätte doch niemals geglaubt, dass man sie beerdigt hatte! Wie hatten sie das gemacht? War hier ein leerer Sarg begraben worden? Wer war für die Kosten der Bestattung aufgekommen? Nun ja, viel würde sie nicht gekostet haben, zwei schlichte Särge aus Araukarienholz, ein bescheidenes Holzkreuz. Immerhin kümmerte sich jemand um das Grab, stellte sie mit einiger Genugtuung fest. Es waren Blumen daraufgepflanzt worden.
    Dann erst, nachdem sie über diese praktischen Aspekte ihrer eigenen Beerdigung nachgedacht hatte, brach das Entsetzen über sie herein. Es war grausig! Wie konnten sie nur so etwas tun? Sie hatten ja keine drei Monate verstreichen lassen, bevor sie sie für tot erklärt hatten. War das normal? Wartete man nicht länger, viel länger? Klara hätte gedacht, bevor jemand nicht mindestens zehn Jahre verschollen war, könne man ihn nicht für tot erklären. Aber hier in São Leopoldo, fernab bürokratischer Hürden, wo die deutsche Gemeinde mehr oder minder dem eigenen Schicksal überlassen war, war es das Wort des Pfarrers, das zählte. Wenn der sie begrub, dann war sie für die Leute tot.
    Sie kniete vor ihrem und Hannes’ Grab und betete. Ihr Zeitgefühl hatte sie verloren, so sehr war sie vertieft in ihre Zwiesprache mit dem Vater im Himmel, der ihr nie so ungerecht und zornig erschienen war wie jetzt. Sie tauchte erst wieder daraus auf, als die Sonne schon ordentlich gestiegen war und der Alltag im Dorf begonnen hatte. Sie hörte das Rumpeln von Ochsenkarren, sah auf der Straße Leute vorbeigehen und bemerkte, dass die Seitentür zur Kirche offen stand.
    Obwohl sie den Pfarrer Zeller nicht leiden mochte und ihn für einen untauglichen Hirten hielt, beschloss sie, die Beichte abzulegen.
    Sie redete sich alles von der Seele. Sie erzählte von ihrem Verhältnis zu Raúl, sie gestand, dass sie Hannes schon vor seinem Tod nicht mehr geliebt hatte und dass sie sogar erleichtert war, dass er fort war. Sie hörte den Pfarrer scharf die Luft einziehen. Sie war sich der Schwere ihrer Sünden durchaus bewusst, aber war es nicht genau das, worum es beim Beichten ging? Kurz schoss ihr die Erinnerung an ihre allererste Beichte durch den Kopf, bei der sie sich lauter harmlose Unartigkeiten ausgedacht hatte. Tja, jetzt musste sie ihre Phantasie nicht erst bemühen – die Wirklichkeit bot viel mehr Stoff als jede erfundene Geschichte.
    Zuletzt sprach sie von dem, was sie am meisten bedrückte, obwohl es ausnahmsweise keine Sünde war, die sie selber begangen hatte. »Ich glaube, dass die Christel Gerhard meinen Mann getötet hat. Es lässt sich nicht beweisen, und gestanden hat sie es auch nicht. Aber es gibt einen Hinweis. Der tödliche Schlag wurde nämlich von einem Linkshänder ausgeführt. Die Christel schreibt zwar wie jeder brave Mensch mit rechts, aber bei allen anderen Verrichtungen bevorzugt sie die linke Hand. Nun, wie gesagt, ein Beweis ist das keiner. Restlos aufklären lässt sich der tragische Unfall wohl ohnehin nie mehr, doch

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