Das Mädchen am Rio Paraíso
Spektakel je mit eigenen Augen gesehen hätte – als ich in Simmern war, mussten wir nach unserer Vorstellung vor dem Bischof alle zu Abend essen und dann schnurstracks ins Bett. Wir wohnten in einer sehr schlichten Herberge, in der ich mir mit fünf anderen Mädchen ein Zimmer teilen musste, was mich jedoch nicht davon abhielt, sofort einzuschlafen. Von der Simmernschen Nacht hatte ich rein gar nichts gesehen. »Und in Gemünden«, erzählte ich weiter, »da konnte man nachts vor lauter Hufgetrappel und rumpelnden Karren und kläffenden Hunden und Straßenmusikanten kein Auge zukriegen.«
Michel musste wirklich sehr beeindruckt sein, denn er sagte keinen Ton. Er zog mich nur etwas enger an sich, aber da kam auch schon unser Hof in Sicht, und er ließ mich los.
»Sehen wir uns wieder?«, raunte er mir ins Ohr. Er berührte dabei mit den Lippen den Flaum an meinem Ohrläppchen, und mir liefen heiß-kalte Schauer über den Rücken. Es war nur der Hauch einer Berührung, nicht annähernd ein Kuss, aber es erschien mir wie der Inbegriff einer unschicklichen – und sehr erregenden – Begegnung.
»Warum nicht?« Ich nickte ihm zu, drehte mich um und lief zum Haus. Ich war wütend über meinen mangelnden Mut und gleichzeitig erleichtert darüber, dass mir weitere Zärtlichkeiten erspart blieben. Das Herz pochte mir bis zum Hals. Ich wusste nicht, wie man in einer solchen Lage zu reagieren hatte. Am einfachsten erschien mir die Flucht.
Ich öffnete die Haustür so leise, wie es mir möglich war. Im Dunkeln tappte ich die Treppe hinauf, den Weg kannte ich gut genug, um auch blind in meine Kammer zu finden. Die Tür war nur angelehnt. Ich stieß sie vorsichtig auf, um niemanden aufzuwecken und dabei erwischt zu werden, wie ich ganz allein nach Hause kam. Als ich drin war, schloss ich die Tür leise. Ich atmete auf.
»Da bist du ja endlich.«
Ich fuhr vor Schreck zusammen. Hildegard!
Im matten Mondlicht, das in meine Kammer schien, sah ich meine Schwester, die sich auf meinem Bett aufrichtete. Sie gähnte. Offenbar war sie, während sie hier auf meine Rückkehr wartete, eingeschlafen.
»Ja.« Etwas Besseres fiel mir nicht ein.
»Wo sind die anderen, Lukas und Johannes?«
»Ich … weiß es nicht.«
»Haben sie dich etwa ganz allein nach Hause gehen lassen?«
»Ähm, nein. Nicht ganz. Der Michel hat mich heimgebracht.«
Vielleicht war es gut, dass in meiner Kammer keine Lampe brannte. Weder wollte ich sehen, wie sich Entsetzen oder Empörung oder was auch immer auf Hildegards Gesicht abzeichneten, noch wollte ich, dass sie mich erröten sah. Zwar hatte ich keinen Grund, mich für irgendetwas zu schämen, aber ich tat es natürlich trotzdem.
»Ach, Schwesterchen«, seufzte sie, »ich dachte, du wärst klüger als wir anderen.«
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8
I ch fürchte, unsere Menina ist ein bisschen blöde.« Teresa sah Raúl enttäuscht an, als habe er ihr ein besonders hübsch verpacktes Geschenk gemacht, dessen Inhalt sich als nutzlos und langweilig entpuppte.
»Was soll der vorwurfsvolle Ton? Was kann ich dafür, dass sie schwachsinnig ist? Wenn sie es denn ist. Es besteht ja immerhin noch die Möglichkeit, dass es an der Sprachbarriere oder an dem Gedächtnisverlust liegt oder an beidem.«
»Nein, nein, Senhor Raúl, die Kleine ist eindeutig zurückgeblieben. Vorhin erst hat sie wieder so belämmert dreingeschaut, als sie ihren Stickrahmen aufgenommen hat. Wirklich, sie glotzte darauf, als hätte sie nie zuvor so etwas gesehen. Dabei war sie es doch, die sich gestern Sticksachen von mir gewünscht hat.«
»Hm.« Raúl war nicht überzeugt. Das Mädchen, das von sich selber noch immer glaubte, es hieße Menina – das allein sprach von einer gewissen Idiotie –, konnte durchaus bei dem Unfall einen irreversiblen Hirnschaden erlitten haben. Andererseits verhielt sie sich nicht gerade wie eine Irre, wenn man einmal davon absah, dass sie immer das Weite suchte, sobald er in ihre Nähe kam. Sie sabberte nicht beim Essen, sie hatte keine Tobsuchtsanfälle, sie hatte keine befremdlichen Zuckungen oder was sonst man sich gemeinhin unter den Symptomen für Schwachsinn vorstellte. Allerdings war auch der einzige Depp, den er selber je persönlich kennengelernt hatte, unauffällig gewesen. Es war der Sohn des Sattlers in Santa Margarida, der mittlerweile um die zwanzig sein musste, der aber auf dem geistigen Niveau eines Sechsjährigen stehengeblieben war.
Nun ja, es änderte ja nichts daran, dass sie nun dieses Mädchen im
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