Das Mädchen am Rio Paraíso
sinnvollen Zusammenhang zu bringen.
Mehr Kopfzerbrechen bereitete ihr die Tatsache, dass sie sich kaum etwas länger als fünf Minuten merken konnte. Wörter, die Teresa – wenigstens diesen Namen konnte sie mittlerweile behalten – ihr beigebracht hatte, entfielen ihr schon nach wenigen Augenblicken. Wenn sie ihr Zimmer verließ, wusste sie bereits in der Diele nicht mehr, was sie vorgehabt hatte. Am Vortag erst hatte sie mit einer Handarbeit begonnen, von der sie schon heute nicht mehr wusste, was es hatte werden sollen. Sie hatte Teresa mit Gesten um Nadel, Stickgarn sowie ein Stück Stoff gebeten. Die Schwarze hatte ihr das alles gegeben. Danach hatte die junge Frau sich auf die Veranda gesetzt und mit einem komplizierten Stickmuster begonnen. All das wusste sie noch. Sie erinnerte sich deutlich an Teresas Freude, als sie ihr das Handarbeitszeug und ein großes Stück Stoff aus grobgewebtem Leinen gebracht hatte. Sie hatte genau vor Augen, wie sie im Schatten gesessen und sich voller Elan ans Werk gemacht hatte.
Und heute? Das begonnene Muster konnte ebenso gut der Anfang einer Blume wie der eines verschnörkelten Buchstabens sein. Und was genau hatte sie verzieren wollen? Eine Kissenhülle? Ein Geschirrtuch? Oder ein Spruchband, ähnlich jenem, das einst in ihrer Küche gehangen hatte und auf dem stand »Eig’ner Herd ist Goldes wert«? Es irritierte sie, dass sie sich an ein so unbedeutendes Detail von früher erinnern konnte, nicht jedoch daran, welche Handarbeit sie sich gestern ausgedacht hatte. Nicht dass es wichtig gewesen wäre – heute würde sie eben einfach an einem Geschirrtuch mit Blütenranken arbeiten und hoffen, dass sie es morgen noch wusste.
Aber … warum war sie darauf nicht vorher gekommen? Sie würde es sich einfach notieren! Sie würde sich einen Spickzettel machen oder besser noch: mehrere. Sie würde alles aufschreiben, Vorhaben wie diese Stickarbeit ebenso wie Namen und neu erlernte Wörter. Nie wieder würde sie die mitleidigen Blicke von Teresa und diesem Mann ertragen müssen, wenn sie sich immer und immer wieder dieselben Wörter oder Namen vorsagen ließ. Es war wahrlich schlimm genug, mit einem kaputten Gedächtnis geschlagen zu sein.
Für schwachsinnig wollte sie nicht gehalten werden.
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9
M it neunzehn war ich noch immer nicht unter der Haube. Ich litt nach wie vor darunter, dass Michel mich so schmählich verlassen hatte. Nur gut, dass ich seinem Drängen nie nachgegeben habe, zumindest nicht so, wie er es sich ausgemalt hatte. Wir haben uns geküsst und an Stellen berührt, die nur Eheleute voneinander kennen sollten – aber meine Unschuld habe ich bewahrt. Als er dann den Hunsrück verließ, um woanders sein Glück zu versuchen, wollte er mich nicht mitnehmen. »Da kann ich ja noch Jahre warten, bis ich endlich auf meine Kosten komme.«
Warum er mich nicht heiraten wollte, war mir unbegreiflich. Immer wieder hatte er mir beteuert, wie groß seine Liebe zu mir war. Aber den einen Schritt, dessen es bedurft hätte, damit ich mich ihm hingebe, nämlich um meine Hand anzuhalten, den hat er nie gewagt.
»Mach dir nichts draus«, tröstete mich Hildegard, »der Kerl taugte eh nichts. Der will nur eine Frau mit einer ansehnlichen Mitgift, damit er nicht so viel zu arbeiten braucht.«
»Er war sowieso zu schön«, mischte Theo sich ein. »Für so einen waren wir hier nicht gut genug.« Dass ausgerechnet er so etwas sagte, gab mir zu denken. Waren wir etwa nur gut genug für verwachsene Knechte?
Theo brachte mich schon länger in Harnisch, denn er spielte sich auf wie der Hausherr, seit mein Vater bettlägerig geworden und Großvater Franz gestorben war. Meine Brüder, die doch eigentlich das Sagen gehabt hätten, ließen sich von ihm herumkommandieren, als wären sie die Knechte und nicht Theo. Andererseits hatte Theo es dank seiner Weitsicht und seines Fleißes tatsächlich geschafft, dass wir einigermaßen über die Runden kamen. Seit er bei uns war, hatten wir in jedem Winter genügend Brennholz und ausreichend Nahrung, etwas, was weder dem Vater noch den Brüdern je gelungen war. Vielleicht stimmte es doch, was Theo immer von uns behauptete: dass wir samt und sonders Nichtsnutze und Träumer wären, Faulenzer und Tagediebe. Ich fand dieses Urteil sehr hart, immerhin schufteten wir alle praktisch rund um die Uhr. Aber was sollte man machen, wenn der Hagel den Weizen vernichtete und die Schweine an der Schweinepest verendeten?
»Aber du warst ja schon immer
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