Das Mädchen am Rio Paraíso
nachher verriet sie noch etwas, das sie lieber für sich behalten wollte. Etwa die Tatsache, dass Menina mindestens ein Kind geboren hatte. Wenn Raúl davon erführe, würde er alle Hebel in Bewegung setzen, um die Familie der jungen Frau ausfindig zu machen, während er ohne dieses Wissen die Angelegenheit, ganz entgegen seiner sonstigen Zielstrebigkeit, eher nachlässig anging. Sie ahnte, dass er sich ihr zuliebe bislang so viel Zeit gelassen hatte. Er gönnte ihr Menina – wie man einem Kind eine neue Puppe nicht wegnehmen mag und sich darauf verlässt, dass diese ohnehin früher oder später unbeachtet in der Ecke landet. Und genau so hatte sie, Teresa, sich ja auch verhalten: Sie hatte über ihre Menina genörgelt. Das würde sie fortan nie wieder tun. Sie würde sie akzeptieren, wie sie war, mit all ihren Schwächen, und würde unendlich viel Geduld aufbringen, um der Kleinen wenigstens so viel beizubringen, dass sie sich hier und da nützlich machen konnte.
Die Erinnerung an bestimmte Düfte war zuerst gekommen, danach die an Melodien. Jetzt tauchten auch immer mehr Bilder auf. Nebelhaft, verschwommen und nicht genau einzuordnen die meisten, einige jedoch von einer beinahe schmerzhaften Klarheit. Die junge Frau schwankte zwischen Freude und Erschrecken, als sie sich selber beim Schweinehüten sah – sosehr sie sich über das wiedergefundene Gedächtnis freute, so betrübt war sie auch über die Erkenntnis, was für ein armes, verschmutztes, mageres Gör sie gewesen war. Natürlich, die Schweine, wie hatte sie die nur vergessen können? Jetzt, wo sie ihr wieder eingefallen waren, meinte sie sogar, ihren Geruch wahrnehmen zu können. Eines davon hatte sie Rosi genannt, kaum dass es geboren worden war. Es war ein niedliches Ferkelchen gewesen und entwickelte sich zu einer prachtvollen Sau. Als Rosi geschlachtet wurde, war das Mädchen untröstlich gewesen und schwor sich, nie mehr im Leben Schweinefleisch anzurühren.
Sie sah sich selbst als etwa Dreizehnjährige, die eines Abends in der Stube eingenickt und von unterdrücktem Gelächter aufgewacht war. Von den Eltern weit und breit keine Spur, dafür sah sie Matthias und seinen besten Freund noch davonlaufen, die triumphierend zwei blonde Zöpfe in die Luft hielten. Sie hatten ihr das Haar abgeschnitten! Das Mädchen kreischte und heulte und fuhr sich mit den Fingern durch den verbleibenden Schopf, der nun so ungewohnt früh und in dicken, stumpfen Spitzen endete. Sie erinnerte sich genau an das Gefühl von damals, an die Trauer, als ihr Haar nicht länger durch die Finger glitt und es nicht mehr mit beiden Händen über den Kragen gehoben werden musste. Es war abscheulich gewesen, aber natürlich hatte die beiden Übeltäter nur eine geringe Strafe erwartet. »Haare wachsen doch wieder, Kind«, hatte ihre Mutter getröstet, und damit war das Thema erledigt gewesen.
Ihre Mutter. Sie sah eine Frau in mittleren Jahren, die trotz ihrer dünnen, verkniffenen Lippen einen gutmütigen, sogar gütigen Eindruck machte. Ihre herben Gesichtszüge wirkten durch die braunen, dichtbewimperten Augen weicher. Sie sah das Kopftuch, braun und dunkelgrün kariert, das ihre Mutter stets bei der Arbeit im Freien getragen hatte, und die Haube, die nur herausgeholt wurde, wenn Gäste kamen oder wenn sie sonntags zur Messe gingen. Sie sah die schwieligen Hände ihrer Mutter, die kräftigen Unterarme, auf denen die Adern hervortraten, wenn sie Wäsche wrang oder Teig knetete. Sie sah die Knöchel ihrer Mutter, die man im Hochsommer unter ihrem langen, groben Rock hervorblitzen sah und über die sich ein Gespinst haarfeiner blauer Äderchen zog. In den anderen Jahreszeiten hatte ihre Mutter derbe Strümpfe getragen. Außerdem hatte die junge Frau genau vor Augen, wie fasziniert sie von dem Leberfleck gewesen war, der am Kinn ihrer Mutter saß und aus dem ein einzelnes, borstiges Haar wuchs.
Bei Leberflecken geisterte ein weiteres Bild in ihrem Kopf herum, aber sie bekam es nicht zu fassen. Irgendeine Bewandtnis hatte es mit den Muttermalen, irgendetwas daran war beängstigend oder unschön. Nein, so lange sie auch darüber nachgrübelte, sie entsann sich einfach nicht. Vielleicht war es am besten, wenn sie abwartete, anstatt ihr Hirn zu durchforsten. Offenbar war es ja so, dass die ältesten Erinnerungen zuerst wiederkamen. Bestimmt würde sie bald auch jüngere Ereignisse sehen können, und irgendwann würde es ihr dann sogar gelingen, diese ganzen Eindrücke in einen
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