Das Mädchen am Rio Paraíso
Haus hatten. »Hätte ich sie etwa nicht retten sollen, wenn ich zu dem Zeitpunkt gewusst hätte, dass sie minderbemittelt ist?«
Teresa sah ihn entrüstet an.
»Na also.« Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Aber es besteht ja noch die Chance, dass sie normal intelligent ist und nur erst wieder zu sich finden muss. Natürlich könnte man auch einen Nervenarzt konsultieren.«
»Einen Irrenarzt? Nur über meine Leiche!«
Dass Teresa besitzergreifend war und es nicht mochte, wenn man ihre Kompetenz in Zweifel zog, wusste Raúl. Womit er diese vehemente Weigerung ausgelöst hatte, war ihm jedoch schleierhaft.
»Habe ich Ihnen noch nie die Geschichte von dem kleinen Pedro erzählt? Ach, nein, ich lasse es lieber, sie ist gar zu schaurig.«
Raúl verdrehte die Augen. Auf dieses Spielchen hatte er jetzt keine große Lust. Teresa liebte es, wenn man sie um etwas bat, sie förmlich anflehte, etwas zu tun, worauf sie ohnehin brannte. So wie in diesem Fall. Aber er machte gute Miene zum bösen Spiel. »Jetzt erzähl schon.«
»Na schön, wenn Sie es so wünschen …« Teresa holte tief Luft. »Also, da war mal dieser Negerjunge, der hieß Pedro. Er lebte mit seiner Mutter – seinen Vater hatte man zur Strafe für irgendein nichtiges Vergehen an eine sehr weit entfernte Fazenda verkauft – auf der Fazenda Bela Vista, wo Ihre Eltern mich damals herausgekauft haben. Pedro also hatte die Fallsucht. Er war eigentlich ein ganz normaler, aufgeweckter Junge, mit dem ich mich sehr gut verstand. Außer wenn er diese schlimmen Anfälle hatte, bei denen er in wilden Zuckungen auf dem Boden lag und die Augen verdrehte und wir alle dachten, der Teufel wäre in ihn gefahren. Eines Tages kam ein berühmter Nervenarzt und lieh sich Pedro für seine Experimente aus. Natürlich hatte der Herr Professor sehr wissenschaftliche Namen für das Ganze, und sein vorgebliches Ziel war es, Pedro zu heilen. Aber als das arme Kerlchen nach einigen Monaten zurück auf unsere Kaffeeplantage kam, war er nicht mehr wiederzuerkennen gewesen. Es war zum Heulen, ehrlich, Senhor Raúl. Wie der Junge still und willenlos vor sich hin dämmerte – nein, keinen Christenmenschen sollte man jemals ohne Not in die Obhut eines Nervenarztes geben.«
»Ich bitte dich, wir würden Menina ja nicht für irgendwelche Versuche zur Verfügung stellen. Aber es könnte doch nicht schaden, wenn ein Experte sich unsere Patientin mal ansehen würde. Womöglich leidet sie unter einer weitverbreiteten Krankheit, die ganz einfach zu kurieren ist.«
»Natürlich leidet sie unter einer weitverbreiteten Krankheit: Sie ist dumm. Heilbar ist das meiner Meinung nach nicht.«
Raúl schmunzelte, zwang sich jedoch zu Sachlichkeit. »Sie kann immerhin lesen und schreiben, vollkommen debil kann sie also nicht sein.« Er richtete den Blick auf einen Punkt in ihrem rückwärtig gelegenen Garten, als fesselte ihn ein ganz bestimmter Gedanke. Dann hob er ruckartig den Kopf und schaute Teresa durchdringend an. »Weißt du was, ich habe genug von deinen verqueren Argumenten. Erst beschwerst du dich, dass sie blöde ist, dann willst du sie aber keinem anderen anvertrauen. Ich schlage also Folgendes vor: Du dokterst weiter nach Gutdünken herum. Wenn in einer Woche keine deutlichen Fortschritte zu verzeichnen sind, holen wir einen Arzt. Unterdessen werde ich mich darum kümmern, dass ihre Herkunft geklärt wird. Wir können dieses Mädchen ja nicht einfach bei uns aufnehmen wie einen zugelaufenen Hund.«
Genau das war es jedoch im Grunde, was Teresa gehofft hatte. Dass Menina ihr weiterhin Gesellschaft leisten würde, dass sie weiterhin jemanden hatte, den sie bemuttern konnte. Natürlich war es schade, dass das Mädchen sich als ein bisschen langsam im Kopf erwiesen hatte, aber das war allemal besser, als den lieben langen Tag allein mit der aufsässigen Sklavin Aninha in diesem Haus zu sein und sich pausenlos über deren törichte Äußerungen ärgern zu müssen. Dann doch lieber die stille, anmutige Menina, die eine hübsche Singstimme hatte und ein freundliches Temperament. Sie sagte zwar nichts, lächelte aber doch gelegentlich, und das entschädigte Teresa für all die Mühe, die sie sich mit dem Mädchen gegeben hatte. Sie hätte das Mädchen gerne dauerhaft bei sich aufgenommen. Doch als sie den Mund öffnete, um ihn, wie Raúl zu Recht vermutete, umzustimmen, kam er ihr zuvor: »Keine weitere Diskussion.«
Vielleicht war es eh klüger, nichts mehr zu sagen, dachte Teresa –
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