Das Mädchen am Rio Paraíso
führen musste.
Die Tatsache, dass wir Landwirtschaft betrieben, hatte keinerlei Einfluss auf meine Aufklärung. Was die Schweine trieben, war eine Sache, was die Menschen, eine vollkommen andere. Auch die große Zahl älterer Geschwister nützte mir wenig. Keiner von ihnen hatte je offen mit mir über diese Themen geredet. Matthias und meine anderen Brüder rissen derbe Späße, die ich nicht verstand. Und die Frauen in meiner Familie – Ursula, Hildegard und Tante Mechthild – waren zu schamhaft, um die Dinge beim Namen zu nennen. Sie ergingen sich in Andeutungen, die mir die ganze Sache mit dem Kinderkriegen noch rätselhafter erscheinen ließ.
Man warnte mich eindringlich vor der Kirmes. Dort, so schien es, gedieh die Unkeuschheit aufs prächtigste. Ich war mein Leben lang jeden Juli zur »Kerb« gegangen, und bisher hatte ich dort nichts anderes erlebt als ungetrübtes Vergnügen. Ich hatte schon oft auf dem Holzboden, der unter der Linde aufgebaut worden war, getanzt, meist mit meinem Vater oder einem meiner Brüder, und in jedem Jahr schlug ich mir den Bauch mit allerlei Leckereien voll, für die ich meine mühsam ersparten Groschen ausgab – ich handarbeitete sehr gefällig und übernahm manchmal Aufträge von der alten Agnes, die mit ihren arthritischen Fingern nicht mehr gut stricken, häkeln und sticken konnte, wofür sie mich meist mit Lebensmitteln, manchmal aber eben auch mit ein paar Münzen bezahlte. Diese Kirmes also, die alljährlich den Höhepunkt des gesellschaftlichen Lebens in Ahlweiler darstellte, sollte in irgendeiner Weise gefährlich sein? Was für ein Unsinn. Die Kerb war lustig. Und vollkommen harmlos.
Zugegeben, in diesem Jahr war die Kirmes anders als früher. Ich war sehr aufgeregt, weil ich erstmals ein langes Kleid und eine Haube tragen durfte wie die erwachsenen Frauen. Auch durfte ich länger bleiben. Das Beste aber war, dass der Vater nicht mitkam. Ich war nur in Begleitung meiner Geschwister dort, und obwohl einige von diesen beinahe ebenso viel Autorität besaßen wie der Vater, war es doch etwas anderes. Neben Lore zum Beispiel, die mit Vater und Mutter bei der Kirmes war, fühlte ich mich sehr reif und erwachsen.
Der Joseph war der Erste, der mich zum Tanz aufforderte. Ich nahm an, obwohl ich ihn nicht besonders gut leiden mochte. Er war zwei Jahre älter als ich und mit meinem Bruder Johannes befreundet, aber er war abgrundtief hässlich. Danach bat der Hannes mich zum Tanz, den ich ebenfalls durch meinen Bruder kannte. Hannes tanzte nicht schlecht, es bereitete mir großes Vergnügen, mich von ihm herumwirbeln zu lassen. Dennoch beließ ich es bei dem einen Tanz, denn ich fand den Hannes zwar ganz nett, aber lange nicht so schmuck wie den Michel. Den hatte ich ja schon früher einmal angehimmelt, und jetzt schien meine Schwärmerei erwidert zu werden, was wiederum meine Leidenschaft sehr beflügelte. Dass der Michel der beste Freund von Matthias war, tat der gegenseitigen Zuneigung, anders als noch vor kurzem, keinerlei Abbruch.
Wir tanzten, bis uns die Füße weh taten. Michel hatte offenbar nicht das geringste Interesse daran, mit seinem besten Kumpan – meinem verhassten Bruder – etwas zu unternehmen. Er genoss meine Gesellschaft wie ich die seine. Verschwitzt und erschöpft von dem vielen Tanzen schlenderten wir zu einer Bude, an der es Starkbier gab. Michel wollte mir ein Glas spendieren, aber das erschien mir dann doch zu gewagt.
»Jesses, Michel, ich darf doch keinen Alkohol trinken!«
»Wer sagt das?«
»Na – alle. Das darf man erst, wenn man erwachsen ist.«
Er musterte mich von Kopf bis Fuß. Mit einem sehr merkwürdigen Leuchten in den Augen sagte er: »Also, mir kommst du schon ziemlich erwachsen vor.«
Ich errötete. Und weil ich vor ihm, dem Objekt meiner Anbetung, nicht wie ein Kind wirken wollte, akzeptierte ich ein Glas von dem Bier.
Es schmeckte abscheulich. Ich verschluckte mich daran und musste würgen. Es fehlte nicht viel, und ich hätte mich übergeben, womit ich mich für alle Zeiten blamiert hätte. Das passierte zum Glück nicht. Es passierte eigentlich gar nichts, denn gerade als Michel seinen Arm um meine Taille legen wollte, gesellten sich Hildegard und Theo sowie Lukas und Anna zu uns – dieselbe Anna, die früher immer meine beste Freundin sein wollte und die jetzt einen großen Bogen um mich gemacht hätte, wenn sie nicht so verschossen in Lukas gewesen wäre.
»Na, für Starkbier bist du aber noch ein bisschen zu
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