Das Mädchen am Rio Paraíso
Standpauke.
»… e nunca fique longe de mim!«, führte Teresa ihre strenge Ansprache zu Ende. Unmittelbar darauf drehte sie sich um und fuhr einen halbwüchsigen Jungen an. »Halt deine dreckigen Finger gefälligst fern von der Senhorita!«
Sie nahm Klara an der Hand und schleifte sie hinter sich her, an unzähligen Buden und Ständen vorbei, durch Gassen zwischen unvorstellbaren Mengen an Früchten und Gemüsesorten, Gewürzen und Kräutern, Fleisch und Fisch, Hülsenfrüchten und Getreidekörnern, Tee- und Kaffeesorten. Bei einigen Händlern, die Teresa offenbar bereits kannten, erstand sie nach langem Feilschen Waren, die sie in der kleinen Karre verstaute, die sie von zu Hause mitgenommen und nun Klara anvertraut hatte.
Allein diese Karre durch die engen Gänge des Marktes zu bugsieren war eine Mühsal, wollte man nicht kunstvoll aufgebaute Türme von Früchten umwerfen oder andere Leute zum Stolpern bringen. Klara war vollkommen überfordert, sowohl mit der Karre als auch mit dem Gewimmel, dem Lärm, den Menschenmassen, den zahlreichen Lebensmitteln, von denen sie kaum eines kannte. Wenn doch so viele Früchte hier wuchsen, warum sah sie dann keine Erdbeeren, Kirschen, Äpfel oder Pflaumen? Wieso gab es weder Spargel noch Saubohnen oder Kohlrabi, weder Fässer mit sauren Gurken noch welche mit Sauerkraut?
Von allen Ständen rief man ihnen etwas zu, manche Händler versuchten sie gar am Ärmel zu packen und auf ihr Angebot aufmerksam zu machen. Teresa schritt mit autoritärer Haltung durch dieses Durcheinander und verscheuchte die Verkäufer, so gut es eben ging. Manch einem warf sie allerdings auch eine Kusshand zu oder erwiderte etwas in der eindeutigen Absicht zu schäkern.
In Klaras Kopf drehte sich bald alles. Die Farben, Geräusche und Düfte waren zu intensiv, das Gedränge zu stark, die Hitze erdrückend. Sie fühlte eine Ohnmacht heraufziehen. Sie hatte seit Jahren keine mehr gehabt, aber als ganz junges Mädchen war es ihr ein paarmal passiert. Sie kannte die Anzeichen. Man fühlte sich flau, plötzlich rückten alle Geräusche in weite Entfernung, so als habe jemand eine Tür zwischen ihr und dem Geschehen um sie herum zugeschlagen, dann verschwamm alles vor ihren Augen. Und alles wurde dunkel.
Klara schwankte. Dann sank sie zu Boden und glaubte Engelein zu hören, als sie den Ruf »Klärchen!« vernahm.
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11
W olfgang Eiser war in der
Colônia Alemã de São Leopoldo
zu einer Art inoffiziellem Bürgermeister geworden. Nicht, dass er klüger oder ehrlicher oder integrer gewesen wäre als die anderen Männer. Er war genau wie sie ein einfacher Bauer aus dem Hunsrück, gottesfürchtig und ein bisschen verschlagen. Zwei Dinge jedoch unterschieden ihn von den anderen Kolonisten, und die waren es, die ihn zu ihrem Fürsprecher und zu ihrem Boten geradezu prädestinierten: Wolfgang Eiser besaß ein Pferd. Und er verfügte über »hervorragende Kenntnisse«, wie er selber behauptete, der portugiesischen Sprache.
Beides hatte er in seinem ersten Jahr in der neuen Heimat erworben. Weil er alleinstehend war und ihm die Bearbeitung seines Landes sowohl zu einsam als auch zu unergiebig schien – ein einzelner Mann konnte dem Urwald gerade genug Ackerfläche abringen, um nicht hungers zu krepieren, mehr jedoch nicht –, hatte er sich auf einem Hof westlich von Porto Alegre als Stallknecht verdingt. Es war eine gute Entscheidung gewesen. Er hatte einen kränkelnden Gaul, der getötet werden sollte, in seiner Freizeit gesund gepflegt und ihn behalten dürfen. Die Kosten für das Futter des Tieres wurden ihm vom Lohn abgezogen, aber das war es Wolfgang wert gewesen. Als er nach einem Jahr zurück in die Kolonie kam, hatte er ein eigenes Pferd – und damit nicht nur eine wertvolle Hilfe bei der Bearbeitung seines Landes, sondern auch ein Fortbewegungsmittel, das zuverlässiger und wendiger war als ein Ochsenkarren. Mit seinem Gaul, dessen alten Namen, Dom João, er übernommen hatte, war er unabhängig von Hochwasser oder anderen Launen der Natur. Er konnte in die Stadt reiten, wann es ihm beliebte, sogar während der Regenzeit, wenn seine Nachbarn aufgrund der aufgeweichten Wege an ihr Land gefesselt waren. Mit Dom João kam er immer irgendwie durch. Und mit seinem bruchstückhaften Portugiesisch ebenfalls.
So ergab es sich, dass seine Landsleute zu Wolfgang Eiser kamen, wenn sie Hilfe im Umgang mit den brasilianischen Behörden benötigten oder ein bestimmtes Mittel aus der Apotheke brauchten.
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