Das Mädchen am Rio Paraíso
ganzen Familie aufs Spiel setzte. Doch die Meinung meiner Geschwister bedeutete mir nicht halb so viel wie Hannes. Was mir deutlich mehr zusetzte, war das Wissen, dass auch mein Vater gegen eine Hochzeit mit Hannes gewesen wäre, wenn er noch bei Verstand gewesen wäre und sich hätte äußern können. Ihm wollte ich auf keinen Fall wehtun – und wer wusste schon, ob er nicht doch mehr von allem mitbekam, als es den Anschein hatte? Nur Theo war, zumindest in dieser Sache, einer Meinung mit mir. Er hatte es nicht so mit der Religion, und daher fand er gar nichts Verwerfliches an Ehen zwischen Katholiken und Protestanten. Trotzdem hielt er Hannes für eine schlechte Wahl.
»Was willst du eigentlich, Schwager?«, fragte ich ihn eines Tages. »Soll ich nun heiraten und hier nicht länger allen zur Last fallen, wie du es ausdrückst, oder soll ich den Hannes lieber nicht nehmen, weil er, wie du sagst, nichts taugt?«
»Himmel noch mal, Klärchen, das ist doch nicht so schwer zu verstehen. Du sollst heiraten, ja, und von mir aus auch einen evangelischen Mann. Aber nicht den Hannes, wenn’s geht. Ich seh ihn schon unser hart verdientes Geld zum Fenster rausschmeißen.«
»Es ist dir offenbar noch nicht aufgefallen«, erwiderte ich, »dass der Hannes ein sehr tüchtiger Schreiner ist. Der verdient an einem Tag mehr als du in einer Woche.«
»Mag sein, aber weder spart er etwas, noch unterstützt er damit andere.« Hier machte Theo eine bedeutsame Pause und sah mich durchdringend aus seinen hinterlistigen Äuglein an. »Der kann sein Geld ganz allein für sich und sein Liebchen verjubeln – was er ja auch, wie’s scheint, tut.«
»Jedenfalls ist er kein Geizkragen.« Ich wusste, dass er das sehr wohl sein konnte, insbesondere wenn es um uneigennützige Ausgaben ging. Aber das verschwieg ich wohlweislich.
»Weißt du was, Klärchen? Mach doch, was du willst. Heirate ihn halt. Oder hat er dich etwa noch nicht gefragt?« Die Häme in seiner Stimme ließ mir vor Wut die Augen wässrig werden.
»Selbstverständlich hat er das«, behauptete ich und stolzierte davon.
Selbstverständlich hatte er das
nicht.
Er hatte von Heirat gefaselt, ja, und immer wieder von dem wunderbaren Leben, das wir fernab unserer lästigen Familien führen würden, aber einen richtigen Antrag hatte Hannes mir nie gemacht. Er traute sich nicht. Er hatte Angst vor der Standpauke seiner Mutter und davor, dass sein Vater ihn enterben würde.
Wäre ich nicht so verliebt in Hannes gewesen, hätte ich mich sicher darüber aufgeregt. Ich hätte ihm Feigheit vorgeworfen und ihn mit der Frage gepiesackt, wie er denn seinen Weg in Amerika machen wolle, wenn er schon nicht Manns genug war, eine katholische Frau zu ehelichen. Aber ich war vollkommen blind. Ich sah nur den kräftigen, gutaussehenden Burschen mit seinen hübschen braunen Augen, seinen großen, zupackenden Händen und dem unerschütterlichen Optimismus. Regelrecht verzaubert hatte mich nämlich die Tatsache, dass er seine Amerika-Pläne weiterhin verfolgte, obwohl die Umsetzung mehr als kompliziert war. Ich liebte ihn wegen dieses Traums, den er nicht aufgab, und fast noch mehr als ihn liebte ich den Traum selber, den ich zu meinem eigenen gemacht hatte.
Es gab Momente, in denen ich mich fragte, ob es nicht allein der Wunsch nach dem Abenteuer und die Lust auf den fernen Kontinent waren, die mich für Hannes eingenommen hatten. Manchmal machte ich mir auch Gedanken darüber, was umgekehrt ihn dazu bewogen haben könnte, mich zu umwerben. Wir kannten uns schon unser Leben lang, doch erst als ich ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, dass er in Amerika eine Frau brauchte, hatte er begonnen, mir den Hof zu machen. Waren es, ähnlich wie bei mir, praktische Erwägungen, die den Ausschlag gegeben hatten? Hatte er in mir plötzlich die ideale Ehefrau gesehen, eine Frau, die nicht nur ledig, gesund und hübsch war, sondern auch fleißig und sparsam?
Ach, im Grunde spielte es doch gar keine Rolle, wie und warum wir zusammengefunden hatten. Unsere ursprünglichen Motive, so unromantisch sie gewesen sein mochten, waren längst in den Hintergrund getreten. Wir hatten uns ineinander verliebt, und wir kosteten jede Sekunde der Zeit, die wir miteinander verbrachten, aus. Wir ließen es uns gutgehen, gingen tanzen, unternahmen gemeinsame Wanderungen durch den Soonwald oder gaben uns am Bachlauf unseren Phantasien von einer besseren Zukunft hin. Und natürlich tauschten wir, wenn wir im Gras lagen und die
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