Das Mädchen am Rio Paraíso
Sie vertrauten ihm ihre Briefe an, wenn er nach Porto Alegre ritt, und sie baten ihn um die unterschiedlichsten Besorgungen. Die eine benötigte Stopfgarn, der Nächste wollte ein Vergrößerungsglas, wieder ein anderer brauchte Tinte – alles, was klein genug war, dass ein Mann es in einer Satteltasche transportieren konnte, brachte Eiser den Leuten mit. Gegen gute Bezahlung, versteht sich.
Als er an diesem strahlenden Märztag über den Marktplatz schlenderte, war er bester Laune. Er hatte alle Aufträge ausgeführt und wollte sich nun mit einem ordentlichen Vorrat an
erva mate
belohnen, dem grünen Kraut, aus dem man hierzulande einen ebenso bitteren wie belebenden Aufguss zubereitete. Er hatte sich das Matetrinken in seiner Zeit als Stallknecht angewöhnt, und seitdem war er kaum noch ohne seine Kalebasse mit dem silbernen Trinklöffel anzutreffen. Das Zeug machte süchtig. Hier auf dem Markt gab es jede Menge Sorten, die er noch nie gekostet hatte – ah, wie er sich darauf freute, sie alle im Laufe der Zeit zu probieren!
Wolfgang Eiser verhandelte gerade mit einem mürrischen Verkäufer in der Tracht der Gaúchos über den Preis von einem Pfund Mate, als er aus dem Augenwinkel einen ungewohnten Anblick wahrnahm. Eine blonde Frau – die musste er doch kennen. Er unterbrach sein Gespräch mit dem Händler und blickte in die Richtung der Frau. Um seine Sehstärke war es nicht allzu gut bestellt, aber doch gut genug, um in dieser Person eine der Kolonistinnen zu erkennen, wie er es vermutet hatte.
»Klärchen!«, rief er.
Im selben Augenblick verschwand sie.
Gleichzeitig fiel Wolfgang Eiser ein, dass es wohl kaum Klärchen gewesen sein konnte. Die war nämlich tot.
Herrje, dachte er, jetzt sah er schon Gespenster. Die Hitze verbrutzelte ihm wirklich das Hirn. Oder trieb ihr ruheloser Geist hier in der Stadt sein Unwesen? Man konnte nie wissen.
Er bekreuzigte sich. Dann bezahlte er ohne weitere Debatte den viel zu hohen Preis, den der Matehändler verlangte, und achtete nicht einmal darauf, ob der Mann ihm den Tee auch korrekt abwog. Er nahm den Papierbeutel mit dem kostbaren Inhalt entgegen und ließ ihn achtlos in seinen Rucksack fallen.
[home]
12
I ch glaube, die Zeit vom Sommer 1823 bis zum Sommer 1824 war das glücklichste Jahr meines Lebens.
Hannes machte mir nach allen Regeln der Kunst den Hof, und ich verliebte mich in ihn. Welches Mädchen würde sich nicht in einen jungen Mann verlieben, der ihr beinahe täglich Blumen und im Winter körbeweise Nüsse und Äpfel brachte? Der ihr mit den schönsten Komplimenten schmeichelte? Der sie immer mit kleinen Mitbringseln von seinen »Reisen« – er fuhr gelegentlich zum Sägewerk in Lansbach oder wegen amtlicher Angelegenheiten nach Simmern – bedachte? Das konnten bunte Bänder sein, hübsche Knöpfe, Lippenpomaden oder ein feines Taschentuch. Einmal schenkte er mir sogar ein Porzellanfigürchen, eine Tänzerin, die sich in ihrer Zartheit und Transparenz auf dem plumpen Bord meiner Kammer ausnahm wie ein Schwan inmitten einer morastigen Pfütze.
Darüber hinaus führte Hannes mich häufig aus, und ich genoss seine Gesellschaft ebenso sehr wie die Tatsache, dass ich so viel erleben durfte. Keine Frau aus meiner Familie konnte es sich leisten, regelmäßig in Gaststuben zu essen, in Schankwirtschaften zu trinken oder beinahe alle Dorffeste in der näheren Umgebung von Ahlweiler zu besuchen. Es war herrlich!
Natürlich litt meine Arbeit darunter, und Theo, wie nicht anders zu erwarten war, beschwerte sich darüber. »Der Kerl hat doch nichts als Flausen im Kopf. Der ist ja fast noch schlimmer als du. Aber eines sag ich dir: Anpacken musst du hier schon noch, solange du hier wohnst. Und warum heiratet er dich nicht endlich? Dann kann er selber zusehen, wie das ist, eine Familie satt zu kriegen.«
Theo wusste genau, warum Hannes und ich uns noch nicht offiziell verlobt hatten, obwohl wir vor aller Augen längst ein Paar waren. Hannes war evangelisch, ich katholisch. Mir persönlich war das egal und Hannes ebenfalls. Wir glaubten schließlich beide an denselben Gott und befolgten dieselben Zehn Gebote, oder etwa nicht? Aber seine Eltern waren strikt dagegen, dass er sich mit einer Katholikin vermählte, die dann die zu erwartenden Enkelkinder katholisch erziehen würde.
Auch bei mir zu Hause gab es darüber heftige Diskussionen. Besonders Matthias und Peter waren sich einig, dass ich bei einer Heirat mit einem Protestanten das Seelenheil der
Weitere Kostenlose Bücher