Das Mädchen am Rio Paraíso
war.
Vor allem aber war sie erschöpft. Nachdem sie mehrere Stunden hin und her gerannt war, dies geholt und jenes gebracht, Töpfe geschrubbt und Besteck poliert, Kräuter geerntet und Pfirsiche gehäutet hatte, taten ihr alle Glieder weh. Auch ihr Kopf dröhnte wieder entsetzlich. Matt ließ sie sich auf einen Küchenstuhl sinken.
Teresa hatte Mitleid mit Klara. Aber nie im Leben würde sie ihr das zeigen. Die Kleine hatte ja förmlich nach Beschäftigung geschrien – also bitte, daran mangelte es nie. Und wenn sie schon arbeiten wollte, dann auch gleich von Anfang an zu ihrer, Teresas, Zufriedenheit. Es war keinem damit gedient, das Mädchen alles falsch machen zu lassen. Natürlich hatte sie ihr nichts körperlich Anstrengendes zu tun gegeben, denn eine neuerliche Ohnmacht war in niemandes Sinn. Und natürlich hatte Teresa sich mehr als perfektionistisch gegeben, denn im Grunde hatte Klara sich gar nicht so übel angestellt. Aber lieber einmal richtig gelernt, als für den Rest des Lebens falsch gemacht. Morgen würde sie ja sehen, ob irgendetwas hängengeblieben war. Für heute reichte es jedenfalls. Sie stellte Klara ein Glas frischer Limonade vor die Nase, strich ihr über den Kopf und überließ sie ihrem Vokabelheft.
Klara notierte sofort das Wort, das Teresa gerade fallengelassen hatte und das keiner Übersetzung bedurfte: »limonada«. Sie hatte bereits an die zwanzig Seiten ihres Notizbüchleins gefüllt, mit einer Reihe von Wörtern, wie sie ihr der Alltag hier im Haus vorgegeben hatte, angefangen bei dem »Prosit« von neulich. Wasser, Bett, Brot, Ei, essen, Teller, Messer, Tisch, sitzen, gehen, Garten, Blume, Rock, Bluse, Laken, waschen, Zeitung, lesen, Kamm, Spiegel oder schlafen hatte sie sich notiert, dazu das entsprechende portugiesische Wort in Lautschrift. Teresa konnte ihr ja nicht die korrekte Schreibweise der Wörter sagen, und Klara glaubte ohnehin, dass die richtige Orthographie ihr weniger nützlich wäre als die verständliche Aussprache der Vokabeln.
Bei Begriffen, zu denen sie keine deutsche Übersetzung wusste, hatte sie sich kleine Skizzen gemacht, etwa bei der sauren Frucht mit dem glibberigen Innern, die »marakuscha« – mit weichem »sch« und Betonung auf der letzten Silbe – hieß. Viele der hiesigen Gewächse kannte Klara nicht, und obwohl sie nicht den Ehrgeiz hatte, sich als Botanikerin hervorzutun, schrieb sie doch fleißig all jene Wörter auf, die öfter vorkamen. »Abackaschieh« versah sie mit dem Bildchen einer stachligen Frucht, die aussah wie ein länglicher Kinderkopf mit einer lustigen Puschelfrisur obendrauf. Die Frucht war übrigens köstlich, saftig und süß. »Manga« zeichnete sie in aufgeschnittenem Zustand, damit man den dicken Kern im Innern gut erkennen konnte, und »mamaun« – für dessen nasale Aussprache ihr keine andere Schreibweise einfiel – versah sie, da die Frucht von außen recht unscheinbar war, ebenfalls mit Kernen, die aussahen wie kleine schwarze, kugelrunde Perlen.
Bei den Tieren war es ähnlich. Pferde, Mücken und Fliegen hatten sie auch im Hunsrück, so dass ihr die Zuordnung eines deutschen zu dem jeweiligen portugiesischen Wort, das Teresa ihr nannte, nicht schwerfiel. Aber diese verrückten bunten Vögel, die vor allem morgens ein Konzert veranstalteten, dass man sich vorkam wie im Urwald, kannte sie nicht. Jeden zweiten davon benannte Teresa als »papagaio«, was ja wohl Papagei heißen sollte. Aber mit den Papageien, von denen Klara daheim Abbildungen in klugen Büchern gesehen hatte, hatten sie kaum Ähnlichkeit.
Klara kostete von der Limonade und zog eine Grimasse. Uh, viel zu sauer. Dann blätterte sie in ihrem Heft ein paar Seiten zurück. Sie wusste genau, dass sie sich kürzlich das portugiesische Wort für Zucker notiert hatte. Und tatsächlich, da war es ja: »assuhkar« hatte sie geschrieben, und so sagte sie es jetzt auch. Sie war aufgestanden, um sich den Zucker aus dem Schrank zu holen, und hatte mit dem Wort auf Teresas fragenden Blick reagiert.
»Bravo,
menina,
das nenne ich ein gelehriges Mädchen!«, freute diese sich.
Klara freute sich noch mehr über ihren Erfolg. Sie wurde verstanden! Ihre Erschöpfung war wie weggeblasen. Plötzlich fühlte sie sich ganz leicht, und fröhlich lief sie durch die Küche, zeigte auf Gegenstände, um sie zu benennen. Bei manchen hatte sie sich die Bezeichnung gemerkt, bei anderen musste sie nachschauen. Übermütig öffnete sie den oberen Teil der Tür, die zu dem
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