Das Mädchen am Rio Paraíso
er ihr am darauffolgenden Tag ein Mitbringsel aus der Stadt nicht persönlich überreichen. Sie fand es auf dem Küchentisch vor, ohne Verpackung, ohne Grußkarte, einzig mit Teresas Hinweis: »Das hat er für dich gekauft.«
Als sie sah, um was es sich handelte, wäre sie dem Mann dafür am liebsten um den Hals gefallen. Sie ahnte, dass dieses Geschenk ihre kleine Welt auf den Kopf stellen sollte – dieses hässliche, plumpe, gebrauchte, dicke, abgegriffene deutsch-portugiesische Wörterbuch.
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N ach und nach erfuhren wir mehr über diese Brasiliensache. Es verhielt sich tatsächlich so, wie die Werber behauptet hatten: Man wurde mit Land und allem Nötigen für einen erfolgreichen Neubeginn ausgestattet. Die ersten Auswanderer waren bereits nach Südamerika aufgebrochen, erzählte man uns, mehrheitlich Hamburger und Niedersachsen. Auch ein paar Hunsrücker waren dabei. Letztere kannten wir zwar nicht, merkten uns jedoch ihre Namen und Heimatorte, um bei Gelegenheit mit ihren Angehörigen zu reden. Irgendwann traf sicher ein Brief bei ihnen ein, und dann würden wir aus erster Hand erfahren, wie es wirklich zuging im fernen Südamerika.
Hannes verbrachte den Großteil seiner freien Zeit auf dem Amt, um sich auf dem Laufenden zu halten. Dort lag das »Intelligenzblatt für den Landkreis Simmern« aus, unsere einzige Zeitung, und in der wurde ausführlich über die Gefahren einer Auswanderung berichtet. Diese schienen uns jedoch nicht allzu arg zu sein. Die Hürden, die man zu nehmen hatte, waren ebenfalls nicht sehr hoch. Es sah ganz danach aus, als seien die erforderlichen Papiere, Pässe und Bescheinigungen nicht besonders schwer zu bekommen. Die Pässe wurden von der Provinzialregierung in Koblenz erteilt, wenn man nachweisen konnte, dass man ein unbescholtener Bürger mit gutem Leumund war, dass man als Mann seinen fünfjährigen Militärdienst abgeleistet hatte und dass man genügend Geld hatte, um die Reisekosten bis zum Einschiffungshafen zu tragen. Denn die bezahlte der brasilianische Kaiser nicht. Die Fahrt nach Bacharach und dann über den Rhein nach Köln, von dort zur Küste, entweder nach Hamburg, Amsterdam oder nach Antwerpen, dann möglicherweise ein mehrtägiger Aufenthalt bis zur Einschiffung – für all das mussten die Auswanderer selber aufkommen. Einzig die Überfahrt nach Südamerika sowie die Weiterreise bis zum Bestimmungsort bezahlte die kaiserliche brasilianische Regierung. Während der gesamten Reise, versicherte man uns, würden sogenannte Agenten sich darum kümmern, dass alles planmäßig verlief – wir Bauerntrampel könnten uns ja sonst verirren oder das Schiff verpassen. Es klang wirklich alles ganz einfach.
Hannes und ich sprachen über nichts anderes mehr. Wir berauschten uns an der Vorstellung, ganz auf uns allein gestellt zu sein und aus eigener Kraft etwas aufzubauen. Dass es, wie Hildegard zu bedenken gab, schwierig werden könnte und wir allerlei Hindernisse würden überwinden müssen, taten wir mit einem Handwedeln ab. Pah, was sollte schon groß passieren? Wir waren jung und stark. Wenn es einer schaffen würde, dann wir. Wir hielten uns für unsterblich und unbesiegbar.
Insgeheim gefiel ich mir in der Rolle der rebellischen Heldin. Ich vertraute das nie jemandem an, nicht einmal Hannes, der doch meine Euphorie teilte und sich vielleicht ebenfalls ein Bild von sich selber im Kopf ausmalte, das ihm besser gefiel als sein wahres Ich. Plötzlich wusste ich mit absoluter Gewissheit, dass mir auf dieser Welt eine besondere Bestimmung zugedacht war. Mein Horizont würde, anders als bei meiner Mutter oder bei Hildegard, nicht am Hollbacher Drachenberg enden. Ich hatte dieses Gefühl schon früher gehabt, als Kind und als Heranwachsende, aber nie war es so greifbar gewesen wie jetzt. Ich würde die Welt entdecken, würde gegen alle Widerstände ankämpfen und allen beweisen, was in mir steckte. »Das Klärchen Liesenfeld aus Ahlweiler, wer hätte das gedacht?«, würden die Leute sagen und sich damit brüsten, mich gekannt zu haben.
Meine Rebellion scheiterte allerdings bereits daran, dass sich mir keine nennenswerten Widerstände boten. Meine Familie nahm meine Auswanderungspläne nicht wirklich ernst. Nachdem Hannes und ich wochenlang schwadroniert hatten, mochte uns auch niemand mehr richtig zuhören. »Ja, ja, ihr fahrt nach Brasilien – und Klärchen, gib mir doch bitte mal die Butter« –, so oder ähnlich waren die Reaktionen bei Tisch, wenn ich wieder
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