Das Mädchen am Rio Paraíso
von Teresa zwei Klapse auf die Wangen und anschließend einen Schluck Wasser geben. Dann erhob sie ihren Oberkörper und blickte um sich. Ihre Ohnmacht hatte einige Schaulustige angelockt, aber als sie merkten, dass nichts weiter passiert war, zogen sie ihres Weges. Die Einkäufe waren wichtiger als so ein schwächelndes ausländisches Fräulein, dem anscheinend die Hitze zu Kopf gestiegen war.
An einen weiteren Versuch, den Professor zu sprechen, war nicht zu denken. Als Raúl die beiden Frauen wie verabredet am Markt abholte und von dem Missgeschick der jungen Deutschen hörte, fuhren sie auf direktem Weg nach Hause. Dort wurde Klara sofort ein von Teresa fabriziertes Gebräu eingeflößt. Anschließend steckte Teresa sie in die Wanne und nahm alle ihre Kleider zum Waschen mit – Klara war vor einem Fischstand in eine Pfütze gesackt und roch entsprechend. Dann wurde sie ins Bett gesteckt. Sie ließ das alles klaglos über sich ergehen. Es war ihr sehr peinlich, dass sie gleich bei ihrem ersten Ausflug in die Wirklichkeit da draußen so kläglich gescheitert war, und sie war heilfroh, dass sie sich vor den mitleidigen – oder gereizten? – Blicken der anderen in den Schlaf retten konnte.
Klara wachte von dem Lärm auf, den ein Gewitter verursachte. Es war dunkel draußen, doch gelegentlich tauchte ein Blitz die Landschaft sowie einen Teil ihres Zimmers in grellweißes Licht. Klara hatte keine Ahnung, wie spät es war. Es war später Nachmittag gewesen, als sie sich hingelegt hatte, bei nur halb geschlossenen Fensterläden. Sie lauschte angestrengt, konnte jedoch im Haus keine anderen Geräusche ausmachen. Es musste mitten in der Nacht sein.
Ihr Erwachen war begleitet von einer Fülle an Erinnerungen, die ebenso heftig auf sie einprasselten, wie die Regentropfen ans Fenster trommelten. Plötzlich war wieder alles da oder fast alles. Denn wie sie in diesem Haus hier gelandet war, dessen konnte sie sich beim besten Willen nicht entsinnen. Die Folge der Bilder, die auf sie einstürmte, endete bei jenem Moment, in dem die Porzellanfigur auf dem Fußboden in tausend Teile zerbrach. Klara hatte den Klang noch deutlich in den Ohren, sah genau, wie der zarte Kopf der Figur zwischen die Holzscheite unter den Herd gekullert war. Die Tänzerin schenkte ihr letztes geheimnisvolles Lächeln dem Astloch eines zerhackten Ipê-Baumstammes. Danach lag alles im Dunkeln.
Klara spürte, dass zahlreiche Erinnerungen in ihrem Kopf nur darauf lauerten, zum Vorschein zu kommen. Es war, als hockten sie da, still und reglos, und warteten auf ein Signal, endlich hervorkriechen zu dürfen. Manche von ihnen waren so nah, dass Klara meinte, sie müsse nur die Hand danach ausstrecken und würde sie zu greifen bekommen. Aber das Gegenteil war der Fall. Je mehr sie sich bemühte, je stärker sie ihr Gedächtnis anstrengte, desto mehr schienen diese vagen Eindrücke sich zurückzuziehen. Es verhielt sich so ähnlich wie mit Worten, die einem auf der Zunge lagen, von denen man wusste, dass sie da waren und dass man sie kannte, die einem aber partout nicht einfallen wollten, und das desto weniger, je mehr man nach ihnen suchte.
Schlimmer als diese vergebliche Jagd auf Erinnerungen war jedoch die Schuld, die Klara empfand. Wie hatte sie jemals ihre Lieben vergessen können? Wie hatten Hildegard und Hannes, ihre Brüder und ihr Vater jemals aus ihrem Gedächtnis verschwinden können, und sei es auch nur vorübergehend? Das war schlichtweg schockierend. Es war abstoßend. Es vermittelte Klara einen Eindruck von sich selber, über den sie lieber nicht länger nachdenken wollte. Und sie fragte sich, welche wichtigen Dinge sich ihrer Erinnerung wohl noch entzogen.
Klara wälzte sich bis zum Morgengrauen im Bett. Es gelang ihr nicht, ihr Gewissen zu beruhigen. Ebenso wenig gelang es ihr, zu entscheiden, was nun zu tun war. Sie musste zurück zu ihren Leuten, so viel stand fest. Aber war es nicht besser, damit zu warten, bis sie vollständig auskuriert war? Solange sie am helllichten Tag in Ohnmacht fiel, solange sie weiterhin Gedächtnislücken hatte und solange es ihr Schmerzen bereitete, längere Zeit zu gehen oder schwere Dinge zu heben, solange würde sie ihrer Familie eine schwere Last sein.
Nun, sagte sie sich, es nützte ja nichts. Diesen Leuten hier war sie ebenfalls eine Last, noch dazu eine, mit der sie eigentlich gar nichts zu schaffen hatten. Gute Christenmenschen waren das, die sie gepflegt und ernährt hatten, ohne dafür je eine
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