Das Mädchen am Rio Paraíso
Gärtchen hinausging, deutete mit dem Finger in die Luft und rief begeistert, mit dem Kopf zu Teresa am Herd gewandt: »Papagaio.«
»Clara ist dumm, Clara ist dumm«, krächzte Raúl, der just in diesem Moment vor dem Fenster auftauchte. Seine Imitation eines Papageis war perfekt.
Teresa feixte, und Raúl hüstelte, um die Verlegenheit des Mädchens nicht noch durch das Gelächter, das ihm in der Kehle aufstieg, zu steigern.
»Oh«, brachte Klara erschrocken hervor. Mit rotem Kopf stammelte sie auf Deutsch eine Entschuldigung.
»Hier, bring dem Senhor Raúl ein Glas Limonade, damit er sich wieder abkühlt«, forderte Teresa sie auf.
»Nein, lass nur. Ich wollte eh gerade hereinkommen.« Er machte auf dem Absatz kehrt und betrat wenige Augenblicke später von der anderen Seite her die Küche. Er war jetzt barfuß.
»Ehrlich, Senhor Raúl, Sie müssen sich mal angewöhnen, Ihre Hausschuhe zu tragen«, maßregelte Teresa ihn.
»Muss ich das? Es ist so heiß, und unsere armen Männerfüße sind immer in steifen, geschlossenen Schuhen gefangen, da sind die Fliesen hier in der Küche eine herrliche Erfrischung.«
Er holte sich ein Glas, setzte sich neben Klara auf einen Stuhl und goss sich selber Limonade aus dem Krug ein. Es war Klara unangenehm, dass er ihr zuvorgekommen war. War er vielleicht doch kein so feiner Herr?
»Was ist das?«, fragte er und griff nach dem Notizbüchlein, das vor Klara auf dem Tisch lag.
In einem ersten Impuls wollte sie schützend ihre Hand auf das Vokabelheft legen. Doch in der Mitte der Bewegung hielt sie inne und ließ ihn gewähren.
Er deutete ihre Reaktion richtig.
»Nein, wenn du nicht willst, dass ich es sehe, ist es schon in Ordnung.«
Klara gab ihm zu verstehen, dass er gerne hineinsehen durfte. Was hätte sie auch anderes tun sollen? Dem Mann, der, wenn sie den mit großem pantomimischem Geschick vorgetragenen Bericht richtig gedeutet hatte, ihr Lebensretter war, konnte sie so eine Kleinigkeit wohl kaum verwehren.
Er las konzentriert, blätterte vor und zurück, betrachtete schmunzelnd ihre Zeichnungen. Seine Mundwinkel wanderten zusehends nach oben. Er gab einen leisen Grunzer von sich. Schließlich brach er vollends in Lachen aus.
»Genial«, rief er, »das ist ja genial!«
Raúl hatte eine Weile gebraucht, bis er überhaupt verstanden hatte, um was es sich handelte. Die Schreibweise der portugiesischen Wörter war zum Teil so grauenhaft verstümmelt, dass sie nicht wiederzuerkennen waren. Das Mädchen hatte zum Beispiel geschrieben »schickara«, und als Raúl es als
xícara,
Tasse, identifiziert hatte, musste er laut herausplatzen. Auch Frau,
mulher,
war sehr kreativ geschrieben worden, nämlich »mulljähr«, und Käse,
queijo,
hatte das Mädchen als »käischu« notiert. Die einheimischen Früchte, etwa
maracujá,
die Passionsfrucht, oder
abacaxí,
Ananas, waren in ihrer Schreibweise geradezu ungenießbar, genau wie
açúcar,
Zucker.
Sie hatte ihre eigene Lautschrift erfunden, und das allein zeugte sowohl von Intelligenz als auch von Phantasiereichtum. Ihre kleine Klara war also doch nicht so schwachsinnig, wie sie vermutet hatten. Er wollte ihr aufmunternd zulächeln, doch Klara sah ihn gar nicht an. Ihr Blick war starr auf die Tischplatte gerichtet, ihr Kopf hing herab.
Klara versank vor Scham fast im Boden. Am liebsten wäre sie diesem Unmenschen nie wieder begegnet, der sich über ihre mangelnden Sprachkenntnisse lustig machte. Sie würde baldmöglichst von hier fortgehen – sie hatte sich schon eine viel zu lange Schonfrist gegönnt. Irgendwann musste sie ja einmal den Tatsachen, so bitter diese auch waren, ins Auge blicken. Auge, dachte sie, »olljo«.
Hätte sie es niedergeschrieben, wären Raúl vor Lachen sicher die Tränen gekommen.
Trotz ihres Vorsatzes war Klara am nächsten Tag noch immer im Hause Almeida in der Rua Camões. Wohin sollte sie auch gehen, ohne Geld, ohne Transportmittel? Sie wäre ein letztes Mal von der Großzügigkeit dieses Scheusals abhängig. Denn anders, Lebensretter hin oder her, konnte sie nicht von diesem Mann denken. Er hatte schlechte Manieren und einen grausamen Humor. Das einzige Mal, das sie ihn aus voller Brust hatte lachen sehen, war während der Lektüre ihres Vokabelheftes gewesen. Und obwohl es sie extrem verletzt hatte, war es doch auch das einzige Mal, dass sie ihn attraktiv gefunden hatte. Er sollte öfter lachen – nur bitte nie wieder über sie.
Da Klara ihrem Gastgeber fortan aus dem Weg ging, konnte
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