Das Mädchen am Rio Paraíso
offenbar nun auch endlich einmal zu Wort kommen wollte. »Weil Brasilien erst seit zwei Jahren ein unabhängiges Land ist. Es ist nicht länger eine Kolonie von Portugal, nein, es ist jetzt ein Kaiserreich. Der brasilianische Kaiser ist zwar eigentlich nur ein Prinz, nämlich der Sohn des portugiesischen Königs, aber so ist das mit den jungen Leuten. Das ist bei den Hoheiten nicht anders als bei allen anderen: Die Jugend lehnt sich gegen die Eltern auf und fühlt sich zu Höherem berufen.« Er lachte affektiert und hielt sich dabei für äußerst volkstümlich. Wir empfanden ihn als Wichtigtuer.
Der erste Redner, der das ähnlich zu sehen schien, unterbrach seinen Kollegen unwirsch: »Die Frau des brasilianischen Kaisers ist die Erzherzogin Leopoldine, eine Habsburgerin. Und sie wünscht sich, dass mehr Siedler aus unseren Gefilden in ihr Land kommen. Weil sie weiß, dass ihr arbeitsam, robust und willensstark seid.«
Ein paar Leute um ihn herum schmunzelten.
Ja, das waren wir wohl. Ganz sicher waren wir von einem anderen Schlag als dieses Portugiesengesindel, das jeder hier als faules südländisches Pack betrachtete, obwohl wir nie im Leben einen Portugiesen vor uns gehabt hatten. Ich wusste, was in den Leuten vorging. Ich wusste aber ebenfalls, dass es den meisten, wenn nicht allen, im entscheidenden Moment an Mut mangeln würde, ihre Heimat zu verlassen. Ganz gleich, wie verlockend das Bild war, das die Fremden von dem fernen Paradies zeichneten, und ganz gleich, wie elend das Leben in Ahlweiler war – man würde sich auf ein solches Abenteuer niemals einlassen.
»Bestimmt steckt der Papst dahinter«, rief erneut Bauer Herbert. »Da müssen wir dann in Brasilien zu allen möglichen Heiligen beten und unsere Sünden einem Pfaffen erzählen, der keine Ahnung vom Leben hat. Damit der Papst die Macht seiner heiligen römisch-katholischen Kirche vergrößert.«
Kein schlechter Einwand, dachte ich, obwohl ich seine Sichtweise meines Glaubens nicht guthieß. Herbert war schlauer, als sein tölpelhaftes Aussehen vermuten ließ.
»Das«, und diese Silbe zog der erste Redner bedeutsam in die Länge, während er vielsagend die Augenbrauen hob, »ist vielleicht das Beste an dem ganzen Unterfangen. Die brasilianische Krone sichert allen Einwanderern das Recht auf freie Ausübung ihrer Religion zu.«
Es war zu gut, um wahr zu sein. Ich traute meinen Ohren kaum. Ein fruchtbares Land, in dem das ganze Jahr über Sommer war, in dem man ein freier Mensch war und in dem man noch dazu mit mehr Gütern begrüßt wurde, als die meisten von uns je besessen hatten – irgendeinen Haken hatte die Sache bestimmt. Wenn es so wundervoll war in diesem Brasilien, warum mussten sie dann die Leute anlocken? Würden die Menschen nicht freiwillig dorthin strömen?
Wie auch immer: Ich musste unbedingt Hannes davon erzählen. Er würde mit diesen Werbern, die unser Dorf besucht hatten, reden und sich nach bürokratischen Einzelheiten erkundigen müssen. Er hatte im Zusammenhang mit seinen Amerika-Plänen schon so vieles an Informationen zusammengetragen, dass er sich auch hier schneller einen Überblick verschaffen konnte als ich. Er hatte Vergleichsmöglichkeiten, würde Kosten und Aufwand einer solchen Reise besser einschätzen können als ich. Ich meine, mir hätte man als Schätzpreis für die Überfahrt 100 Taler oder 100 000 Taler sagen können, ich hätte beides für möglich gehalten.
Brasilien! Vielleicht war das die Lösung all unserer Probleme! Mein Tag war gerettet. Die Möglichkeit, jemals aus Ahlweiler herauszukommen, so unwahrscheinlich sie auch war, ließ mich den Trübsinn um mich herum vergessen. Die nach der späten Schneeschmelze aufgeweichte Erde, die tiefhängenden Wolken, die von derselben Farbe waren wie die feucht glänzenden Schieferdächer des Dorfs, die bleichen Gesichter, die trostlosen Farben unserer Kleidung – all das nahm ich kaum noch wahr.
In meinem Kopf ging es warm, bunt und fröhlich zu.
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13
Z uerst sah sie die Heilige Muttergottes, die ein hellblaues Kleid trug und über deren Haupt ein Heiligenschein schwebte. War sie im Himmel gelandet?
Dann bemerkte sie, dass es sich um ein verbeultes Medaillon mit dem Antlitz der Madonna handelte. Es baumelte aus dem Ausschnitt einer Frau heraus und hing direkt vor ihrer, Klaras, Nase. Der üppige Busen der Frau wogte vor Entrüstung, als sie von Teresa beiseitegeschoben wurde. Klara lächelte das vertraute Gesicht der Schwarzen an. Sie ließ sich
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