Das Mädchen am Rio Paraíso
dass nur ich sie hören konnte, hinzu: »Außerdem muss sie ja für zwei essen.«
Ich glaubte, mich verhört zu haben. »Wie kommst du denn auf so etwas? Ich bin seekrank, Christel, nicht in anderen Umständen.«
»Wer’s glaubt …«, sagte sie bedeutungsschwer, bevor sie sich eines Besseren besann und mit aufgesetzter Fröhlichkeit fortfuhr: »Na, Gott sei Dank. Das wäre jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt für die Familiengründung.«
Nein, das wäre es wahrhaftig nicht. Als die Nacht kam, wobei es in unserem Zwischendeck kaum einen Unterschied zwischen Tag und Nacht gab, so düster, wie es darin war, lag ich noch stundenlang wach und rechnete nach. Bei all den Aufregungen der vergangenen Wochen war es mir ganz normal erschienen, dass mein Zyklus unregelmäßig war, ja, ich war sogar froh über das Ausbleiben meiner Regel gewesen. Es war bei den hygienischen Bedingungen auf dem Schiff eine sehr unangenehme Sache. Konnte es wirklich sein, dass ich ein Kind erwartete?
Selbstverständlich konnte es sein, gestand ich mir plötzlich ein. Es war eher ein Wunder, dass es nicht schon vorher passiert war. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Ich hatte mir immer eine Familie erträumt, aber jetzt, da dieser Traum Wirklichkeit zu werden schien, war ich todunglücklich. Mutterfreuden! Mit dickem Bauch in einem fremden Land ankommen; hochschwanger die harte körperliche Arbeit verrichten, die uns erwartete; mit einem Säugling auf dem Arm die Angriffe der Wilden abwehren – ich sah es genau vor mir. Es war absolut unmöglich. Ich wälzte mich in meiner Koje und begann still vor mich hin zu weinen. Dieser Tag würde sich mir auf ewig ins Gedächtnis brennen. Mein Geburtstag. Das Datum, auf das ich insgeheim immer stolz gewesen war.
Ich erblickte an demselben Tag das Licht der Welt, an dem man den Schinderhannes hingerichtet hatte, nämlich am 21 . November 1803 . Ich habe mir mein Leben lang eingeredet, dass mit dem Ableben des berühmt-berüchtigten Hunsrücker Räuberhauptmanns ein Teil seines Wagemutes auf mich übergegangen wäre, die ich zum exakt gleichen Zeitpunkt geboren wurde, als die Guillotine seinen Hals traf. Obwohl der Schinderhannes ein gemeiner Verbrecher gewesen war, verehrten ihn viele Hunsrücker als eine Art Rächer der armen Leute, und auch ich hatte ihn immer als Helden betrachtet.
Doch erst an diesem schlimmen Tag auf See, dem 21 . November 1824 , drängte sich mir der Gedanke auf, dass dieses Datum möglicherweise nicht nur Gutes bedeutete.
Vielleicht lag auch ein Fluch darauf.
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19
M änner waren ja so unglaublich leicht zu manipulieren! Sogar dieser, von dem sie doch nun angenommen hatte, er sei anders als die anderen. Stolzer, arroganter, unbeugsamer, egoistischer, selbstgenügsamer, härter. Aber nein – kaum hatte sie ihn mit ein paar gezielten Augenaufschlägen bedacht und elegant einige Andeutungen fallenlassen, war er in die Knie gegangen. Wie die anderen auch. Es schmeichelte ihr zwar, dass er sich so schnell in die Reihe ihrer Verehrer eingefügt hatte, doch mehr Vergnügen hätte es ihr bereitet, wenn er schwerer zu knacken gewesen wäre. Zu leicht durften es die Männer einem schließlich nicht machen.
Josefina betupfte ihre Nase mit Puder und musterte ihr Gesicht in dem vergoldeten Handspiegel. Mit ihrem schwarzen Haar und der milchig weißen Haut war sie eine Schönheit, das war ihr oft genug gesagt worden. Warum nur fühlte sie sich oft ganz und gar nicht wie eine? Sei’s drum. Heute war einer jener Tage, an denen sie sich ganz gut gefiel. Sie spitzte die vollen Lippen und hauchte ihrem Spiegelbild einen selbstverliebten Kuss zu. Dann legte sie ihre Perlenohrringe an, setzte den roséfarbenen Hut auf und machte sich auf den Weg zu ihrer besten Freundin. Isabel war die einzige Person, mit der sie die Dinge erörtern konnte, die sie derzeit beschäftigten. Sollte sie, Josefina Ribeiro de Oliveira, Tochter des Barão de Santa Maria das Luzes, diesen Mann heiraten, oder sollte sie nicht?
Vieles sprach für eine Ehe mit Raúl Almeida. Er war reich, sah blendend aus und war ein interessanter Zeitgenosse. Er würde auch in den Augen ihrer Eltern einen guten Schwiegersohn abgeben. Und er würde sie von dem ewigen Genörgel erlösen, sie solle sich endlich einen Bräutigam suchen, sie sei ja immerhin schon dreiundzwanzig Jahre alt und damit überreif für die Ehe. Gegen ihn sprach eigentlich nur eines: Er hatte eine leicht hinterwäldlerische Ader. Warum sonst
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