Das Mädchen am Rio Paraíso
vollkommen bedeutungslos war, wie sie mit Nachnamen hieß und wie viele Kinder sie hatte. Änderte ihr Familienstand irgendetwas an ihrer Amnesie? Änderte die Tatsache, dass sie ein kleines Mädchen hatte, etwas an der Art und Weise, wie sie hier behandelt wurde? Nein.
Als sie sich vor einigen Tagen plötzlich wieder erinnert hatte, zuerst an den Ehemann und schließlich, als würde ein Schleier fortgerissen, an ihre kleine Tochter, da war sie vollkommen durcheinander gewesen. Der Schmerz des Verlustes hatte sie schier überwältigt, eine quälende Sehnsucht packte sie – von ihrer Hilde getrennt zu sein und nicht zu wissen, wie es der Kleinen ergangen war, hatte ihren schlimmsten Alpträumen Nahrung gegeben.
In ihrer Verwirrung hatte sie ihren Gefühlsaufruhr vor ihren Gastgebern zu verbergen versucht: Es wäre ihr unerträglich gewesen, ihnen zu gestehen, dass sie vorübergehend die Erinnerung an die eigene Tochter verloren hatte. Was sollten die denn von ihr denken? Sie würden sie entweder für geisteskrank halten oder für gefühlskalt oder für beides – in jedem Fall aber für eine Rabenmutter.
Außerdem hatte es ihr für ein derartiges Geständnis an Gelegenheit gemangelt. Senhor Raúl jagte ihr noch immer Angst ein, wenn auch nicht mehr so viel wie zu Beginn, und sie störte ihn nicht gern. Sie hatte die Szene genau vor Augen, die sich abgespielt hätte: sie, bewaffnet mit ihrem Zettel, auf den sie »Klara Wagner,
marido
Hannes Wagner,
filha
Hildegard« gekritzelt haben würde – und er, der gelangweilt und mit einem angestrengten kleinen Lächeln von seinen Büchern aufgesehen und abwesend »soso« gesagt hätte, wie zu einem Kind, das einen bei wichtigen Arbeiten mit Belanglosigkeiten unterbrach.
»Nicht wichtig«, ereiferte Raúl sich aufs Neue. »Mein Gott, Klara, wenn das nicht wichtig ist, dann würde mich aufrichtig interessieren, was sonst für dich wichtig sein könnte.«
Klara verdrehte die Augen. Er hatte es in den falschen Hals bekommen, das hätte ihr eigentlich vorher klar sein müssen. Doch sie wusste nicht, wie sie es sonst hätte erklären können.
Nun, morgen würde sie, mit oder ohne Hilfe Raúls, irgendeine Polizeiwache aufsuchen, notfalls zu Fuß. Die würden wissen, was zu tun war, und die würden ihr bestimmt auch einen Übersetzer zur Seite stellen. Ihre bisherige Erfahrung im Umgang mit brasilianischen Beamten hatte sie gelehrt, dass diese Leute zuvorkommend und geduldig waren und die deutschen Einwanderer immer mit offenen Armen empfangen und mit größtem Respekt behandelt hatten.
Raúl klatschte sich mit voller Wucht auf seinen Unterarm. »Mücken«, konstatierte er. »Ich gehe lieber rein.« Er ver-schwand ohne einen Gruß.
Am besten wäre es, sagte Raúl sich, als er wieder an seinem Sekretär saß, er hörte jetzt auf, weiter über diese Sache nachzugrübeln. Wenn man die Dinge einmal überschlafen hatte, konnte man wieder klarer denken. Morgen früh würde er Klara in aller Ruhe erklären, warum es unumgänglich war, die Polizei aufzusuchen, vor allem in ihrem eigenen Interesse – sofern sie unschuldig sein sollte.
Klara blieb noch eine Weile wie erstarrt draußen sitzen. Ihr Blick heftete sich auf die Nadel, die Raúl schräg in das Deckchen auf dem Verandatisch gepiekst hatte, ohne sie jedoch bewusst zu sehen. Dann sprang sie mit einem Ruck auf, hektisch, als hätte sie vergessen, dass ein Topf mit Milch auf dem Herd stand. Sie schnappte sich ihre Sachen und verzog sich ebenfalls nach drinnen. Sie lief die Treppe hinauf und schloss sich in ihrem Zimmer ein. Auf das Abendessen, nach dem schon das ganze Haus duftete, verzichtete sie. Der Appetit war ihr gründlich vergangen.
Es war noch viel zu früh, um sich schlafen zu legen. Aber nach Gesellschaft war ihr jetzt überhaupt nicht zumute, und so ganz allein gab es nicht viel, womit sie sich hätte ablenken können. Es befand sich kein Buch im Haus, das sie lesen konnte, und ihre Handarbeit war ruiniert. Also entkleidete sie sich und warf sich aufs Bett.
Gott, es war so stickig hier drin! Das Fenster mochte sie allerdings nicht öffnen, denn aufgrund des feuchten Wetters und der Hitze wurden in der Tat die Mücken zur Plage. Klara gehörte zwar, anders als Senhor Raúl, nicht zu den Leuten, die die Biester magisch anzogen, doch man musste es ja auch nicht herausfordern, zumal sie noch keine Lust hatte, das Licht zu löschen.
Sie griff nach der einzigen verfügbaren Lektüre, ihrem Wörterbuch. Nachdem sie
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