Das Mädchen am Rio Paraíso
Sie betraf es schließlich weit mehr als ihn, und sie hatte das Recht, von den in der Zeitung geschilderten Ereignissen zu erfahren. Sie zeigte immer und immer wieder auf den Artikel, hob fragend die Brauen und die Schultern.
War Hannes wegen der Misshandlungen seiner Ehefrau von einem ihrer Nachbarn angezeigt und von der Polizei verhaftet worden? Nein, erstens hatte ihr das alles ja niemand geglaubt. Zweitens wäre jeder, selbst wenn er ihrer Leidensgeschichte Aufmerksamkeit geschenkt hätte, davor zurückgeschreckt, die Polizei einzuschalten. Und drittens wäre das doch einer Zeitung nicht einen so großen Artikel wert gewesen. Allerdings hatte sie in Brasilien nie eine Zeitung zu Gesicht bekommen und wäre auch nicht imstande gewesen, sie zu lesen. Vielleicht passierte so wenig, dass die kleinsten Vorkommnisse zu fürchterlichen Tragödien aufgebauscht wurden.
Oder waren sie auf ihrer traurigen kleinen Parzelle das Opfer von Raubtieren geworden? Hatte ein Jaguar ihren Mann und ihre Tochter zerfleischt, während sie selber Reißaus genommen hatte? Der Gedanke, dass sie ihr Kind in den Fängen eines wilden Tieres zurückgelassen haben könnte, war zu grässlich, um ihn weiterzuspinnen. Nein, so eine schlechte Mutter war sie nicht. Sie hätte ohne zu zögern ihr Leben gegeben, um das ihrer kleinen Hilde zu retten. Und überhaupt, wäre ein Jaguar über sie hergefallen, dann hätte sie selber ja sicher ebenfalls Bisswunden gehabt und nicht Knochenbrüche und Prellungen.
Aber ganz gleich, was geschehen sein mochte: Alle vorstellbaren Szenarien erfüllten Klara mit Entsetzen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, wenn ihrem Hildchen etwas zugestoßen wäre. Die Kleine war ihr Leben, ihr größter Schatz. Ohne sie hätte nichts mehr einen Sinn. Allein die Vorstellung, ihre Tochter könne tot sein, zerriss Klara das Herz. Sie trocknete mit ihrem halbbestickten Geschirrtuch, aus dem noch ein Faden mitsamt der Nadel baumelte, die Tränen, die ihr in die Augen geschossen waren.
»Deine Geflenne rührt mich kein bisschen«, brauste Raúl auf. »Du hast uns von A bis Z belogen. Du hast dich hier eingenistet und wie ein braves Mädchen gebärdet, und dabei bist du vielleicht sogar eine Mörderin. Mir wird übel bei der Vorstellung, wie leichtgläubig wir waren, wie bereitwillig wir dir auf den Leim gegangen sind. Ich gehe. Gute Nacht.«
Klara stand gleichzeitig mit ihm auf. Das konnte er doch nicht machen! Wer außer ihm sollte ihr sonst sagen können, was in dem Zeitungsartikel stand? Es musste etwas sein, was ein sehr schlechtes Licht auf sie warf. Wurde sie eines Verbrechens bezichtigt? Sie musste es jedenfalls wissen, jetzt sofort. Sie klammerte sich an Raúls Ärmel, um ihn davon abzuhalten, einfach zu verschwinden, und gab ihm zu verstehen, dass er ihr bitte,
por favor,
den Inhalt des Berichts resümieren möge.
»Na schön«, ließ er sich erweichen. »Es steht drin, dass dein Mann getötet wurde, dass du ebenfalls für tot gehalten wirst und dass dem Kind nichts fehlt. Der genaue Tathergang wurde noch nicht ermittelt«, hier verzog er die Lippen zu einem bitteren Lächeln, »da du es ja vorgezogen hast, dich hier bei uns zu verstecken.«
Nachdem Klara sich halbwegs zusammengereimt hatte, was gemeint war, fing sie an, hemmungslos zu heulen. Ihre Stickarbeit drückte sie immer wieder schniefend an Augen und Nase.
Raúl zog die Nadel von dem Faden herunter, bevor sie sich noch daran verletzte. Dafür hatten sie sie schließlich nicht gesund gepflegt, dass sie sich jetzt versehentlich eine Sticknadel ins Auge bohrte.
Sie schüttelte vehement den Kopf und schluchzte dabei immer wieder:
»Não, não, não«
– nein, nein, nein.
Was genau sie verneinte, erschloss sich Raúl nicht. Konnte sie nicht glauben, dass sich diese Tragödie abgespielt hatte, dass ihr Mann gestorben war? Oder leugnete sie, daran in irgendeiner Form Schuld zu tragen? Fest stand, dass ihr wiederholtes Nein überaus glaubhaft klang. Sie wirkte nicht wie eine Mörderin, nicht einmal wie eine Lügnerin. Sie machte vielmehr den Eindruck einer Frau, die zutiefst erschüttert war.
»Warum hast du uns nie gesagt, dass du Mann und Kind hast? Dass du gar nicht Liesenfeld heißt?«, fragte er in ruhigerem Ton. Ihre Seelenpein ließ ihn nicht so gleichgültig, wie er es gern gehabt hätte.
Klara versuchte es ihm zu erklären.
»Não importante«
– nicht wichtig, stotterte sie. Was sie meinte, war, dass es für ihren Aufenthalt hier im Haus
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