Das Mädchen am Rio Paraíso
in einer stabileren Position zu liegen und nicht aus der Koje zu fallen, zweitens, weil es mir vor lauter Übelkeit kaum möglich war, mich ausgestreckt hinzulegen. Hannes streichelte meinen Kopf und hielt mir immer wieder den Eimer hin. Er selber litt erstaunlicherweise nicht in diesem Maße unter der Seekrankheit wie die meisten anderen. Er bildete sich sehr viel darauf ein, und das konnte er auch. Ich war stolz auf meinen Mann, der inmitten dieses Gestanks, dieser Unordnung und der ganzen Misere Haltung bewahrte.
Mein Mann,
ging es mir nicht aus dem Sinn. Es klang gut. Und es war auch gut, mit Hannes verheiratet zu sein. Von allen Leuten an Bord, so fand ich, war er der mit Abstand Stärkste, Gesündeste und Schönste. Und er gehörte mir. Gemeinsam würde uns alles gelingen, was wir uns vorgenommen hatten.
Bei einigen unserer Mitreisenden musste man sich dagegen fragen, wie sie es bis hierher geschafft hatten und wie sie die noch zu erwartenden Strapazen überstehen würden. Die Hellmanns etwa. Dieses Ehepaar in etwas reiferem Alter machte nicht den Eindruck, als würden sie die Fahrt überleben. Therese Hellmann war so krank, dass sie nur mehr ein Wimmern von sich gab. Ihr Mann, Paul, war an Bord unglücklich gestürzt und hatte sich eine hässliche Wunde am Bein zugezogen, die sich entzündet hatte. Einen Arzt hatten wir nicht an Bord, so dass alle möglichen Kräutertinkturen zur Behandlung eingesetzt wurden, allerdings ohne sichtbare Wirkung. Ich fragte mich, was ein älteres Paar, sie waren sicher schon über vierzig Jahre alt, dazu bewogen haben könnte, alles hinter sich zu lassen und in Brasilien einen Neubeginn unter sehr viel schwierigeren Bedingungen zu wagen, als wir jungen Leute sie hatten. Aber die Hellmanns sprachen nicht über ihre Gründe, wie sie sich überhaupt von ihren Mitreisenden fernhielten.
Dann war da die Familie Schlüter, Vater, Mutter und drei Kinder zwischen sieben und elf Jahren. Grundgütiger, dachte ich, wenn wir zu zweit schon so viele Hürden hatten nehmen müssen, um auf dieses Schiff zu gelangen, wie musste es dann erst mit drei Kindern gewesen sein? Das jüngste Kind war an der Ruhr erkrankt, und es sah so arm und klein und schwach aus, dass ich nicht an sein Überleben glaubte. Die Eltern beteten ohne Unterlass, während die beiden anderen Kinder, von Seekrankheit und anderen Übeln verschont, durch das Zwischendeck rasten, Verstecken spielten und uns alle mit ihrem Geschrei in den Wahnsinn trieben.
In manchen Reisenden wiederum erkannten wir uns selber wieder: jüngere Leute, Paare meist, die noch keine Kinder hatten und die der Armut in ihrer Heimat zu entkommen suchten. Es gab auch einige alleinreisende Männer, Handwerksburschen oder Bauern zumeist, alle im Alter von Mitte zwanzig bis Mitte dreißig. Frauen ohne Begleitung befanden sich nicht an Bord, obwohl es solche gab. In Antwerpen hatten wir eine junge Lehrerin kennengelernt, die ganz allein nach Nordamerika aufgebrochen war.
Mit Christel und Franz Gerhard aus dem Westerwald freundeten wir uns gleich zu Beginn der Reise an. Sie waren etwa in unserem Alter und hatten sich aus denselben Gründen in dieses Abenteuer gestürzt wie wir: Sie hatten wenig zu verlieren und viel zu gewinnen. Sie war die Tochter eines hochverschuldeten Wirts, er war der jüngste Sohn einer einst neunköpfigen Bauernfamilie, von der allein im vergangenen Winter drei an Hunger und Kälte gestorben waren.
Gegen Abend dieses Tages, als entweder der Sturm nachgelassen oder aber wir uns an den Wellengang gewöhnt hatten, kam Christel an meine Koje.
»Alles Gute zum Geburtstag«, wünschte sie mir. »Hier, das ist für dich.«
Damit reichte sie mir ein Glas Hausmacher-Leberwurst. Ich war sehr gerührt. Ich hätte zwar bei dem Gedanken daran, feste Nahrung zu mir nehmen zu müssen, gleich wieder würgen können, aber offenbar hatte ich mir einen letzten Rest Verstand bewahrt. Ich wusste, dass angesichts der schlechten Versorgung dieses Glas Wurst ein kleines Vermögen darstellte.
»Das … kann ich nicht annehmen«, sagte ich heiser.
»Natürlich kannst du das«, mischte Franz sich ein. »Wenn du es aufmachst, dann kannst du uns ja an dem Festschmaus teilhaben lassen.«
Ich grinste ihn unglücklich an. »Ja, hm. Also schön. Vielen Dank.«
»So ein Quatsch«, widersprach Christel ihrem Mann. »Sie wird es ganz allein aufessen, es ist ja schließlich
ihr
Geburtstagsgeschenk.« Nach einem stirnrunzelnden Blick auf mich fügte sie leise, so
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