Das Mädchen am Rio Paraíso
machte. Wie dumm man wirkte, wenn man kein Wort sagen konnte. Und wie dumm er selber gewesen war, dass er sich von diesem – falschen – Eindruck hatte beeinflussen lassen.
Klara verständigte sich weiterhin mit Händen und Füßen sowie vereinzelten Wörtern, die sie nachschlug. Doch Raúl verstand sehr gut, was sie sagte. Sie wollte heim. Sie wollte zu ihrer Tochter. Sie wollte sich den Behörden in São Leopoldo stellen. Sie wollte mit allem, was sie wusste und aus ihrer Erinnerung zutage gefördert hatte, bei den Ermittlungen behilflich sein. Und vor allem wollte sie, dass weder er, Senhor Raúl, noch sonst irgendjemand sie für die Mörderin ihres Mannes hielt.
Das alles trug sie in sehr nüchternem Ton und mit ungerührter Miene vor. Es kam Raúl so vor, als hätte Klara diesen Auftritt einstudiert wie eine Rolle bei einer Theateraufführung. Als hätte sie sich dazu gezwungen, sachlich und kühl zu bleiben. Andere Frauen hätten in derselben Situation ihr Anliegen doch mit viel mehr Leidenschaft vorgetragen, unter Tränen und untermalt von theatralischen Gesten, oder nicht? Nun, vielleicht war diese trockene Art ja auch ein typischer Wesenszug der Kolonisten? Oder handelte es sich vielmehr um reine Berechnung? Hatte sie begriffen, dass man bei Männern wie ihm eher zum Ziel kam, wenn man ihren Verstand ansprach und nicht ihr Herz?
Er brachte es nicht über sich, ihr zu erklären, dass niemand sie für eine Gattenmörderin hielt. Es wusste ja sonst keiner, dass Klara noch am Leben war, wodurch sich die tragische Geschichte, die sich dort im Dschungel abgespielt hatte, in einem völlig anderen Licht darstellte. Erst durch ihr Auftauchen würde sie den Verdacht auf sich lenken. Dennoch musste er ihr in einem Punkt beipflichten: Es war unumgänglich, die zuständige Behörde aufzusuchen und zu berichten, was sich zugetragen hatte. Zumindest von jenem Zeitpunkt an, da er Klara gefunden hatte.
»Weißt du was, Klara? Bevor wir uns auf den Weg nach São Leopoldo machen, werden wir meinem Freund Paulo Inácio einen Besuch abstatten. Er ist Redakteur beim ›Jornal da Tarde‹, und bestimmt kann er weitere Details des ganzen Vorfalls in Erfahrung bringen. Dinge, die sie vielleicht nicht veröffentlicht haben. Mir erscheint das alles nämlich sehr ominös. Ich glaube nicht, dass ihr von Indianern überfallen wurdet. Genauso wenig mag ich annehmen, dass du eine Mörderin bist. Ein wenig haben wir dich hier ja kennengelernt, in den vergangenen Wochen, und – nein, du bist keine Mörderin.«
Allerdings, gestand Raúl sich ein, wusste er auch nicht, wie man sich eine solche vorzustellen hatte. Ganz bestimmt waren es nicht nur alte, warzige Hexen, die ihre Männer meuchelten. Aber Klara? Mit ihren großen hellen Augen, ihrer sommersprossigen Nase, ihren vollen Lippen und den mittlerweile rosigen Bäckchen sah sie aus wie die personifizierte Unschuld. Dass ein so hübsches Geschöpf eine gemeine Verbrecherin sein sollte, konnte und wollte er einfach nicht glauben.
Klara hatte sich ihre kleine Ansprache in der Tat vorher genau überlegt. Sie war zu der Überzeugung gelangt, dass sie sich keinen Gefallen damit täte, wenn sie heulte und jammerte und sich aufführte wie jemand, der dringend der Bevormundung bedurfte. Wenn sie vernünftig auftrat, wenn sie Gezeter oder Gezänk vermied, dann würde sie auch behandelt werden wie ein erwachsener Mensch.
Umso unerklärlicher war ihr, mit was für einem unsinnigen Vorschlag Senhor Raúl ihr jetzt nun wieder kam. Was sollten sie bei der Zeitung? Oder hatte sie seine Worte vollkommen falsch gedeutet? Wieso ließ er sie nicht einfach ihres Weges ziehen? Warum spielte er sich als ihr Beschützer auf? Klara musste sehr an sich halten, um weiter verständig und ruhig zu wirken. Dabei kochte sie vor Wut. Männer! Was bildeten die sich überhaupt ein? Mit welchem Recht benahm sich Senhor Raúl wie ihr Vormund? So tragisch ihr persönliches Schicksal auch war, einen gewissen Vorteil barg der Tod ihres Mannes: Als Witwe hatte Klara beinahe so viele Rechte wie ein Mann. Und die neugewonnenen Freiheiten würde sie auf keinen Fall wieder aufgeben, weil irgendein irregeleiteter Gaúcho meinte, sich um sie kümmern zu müssen. Er hatte sich genug gekümmert. Sie war ihm dankbar dafür. Aber nun war es allerhöchste Zeit, ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen.
Klara schüttelte den Kopf. Dann erklärte sie Raúl erneut, was sie vorhatte. Ihre portugiesischen Sätze waren so
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