Das Mädchen am Rio Paraíso
simpel wie deutlich: »Ich. São Leopoldo. Allein.«
»Oh nein, meine Liebe. Allein hast du es ja kaum nach Porto Alegre geschafft. Wie willst du dann in die Wildnis kommen? Zu Fuß? Ohne Geld, ohne männliche Begleitung?«
Klara hütete sich, ihm eine schnippische Antwort zu geben. War sie schließlich nicht schon einmal von Porto Alegre nach São Leopoldo gereist? Mehr als zwei Jahre war das jetzt her, aber sie erinnerte sich daran, als wäre es gestern gewesen. Es war ganz einfach, leichter jedenfalls, als zu Fuß in die Stadt zu gehen. Auf dem Rio dos Sinos verkehrten Boote. Die Boote transportierten Auswanderer. Die sprachen Deutsch. Und die Überfahrt kostete keinen Pfennig, sofern sie sich unter die frisch eingetroffenen Kolonisten mischte, die ja auf Einladung des brasilianischen Kaisers kamen.
Klara schluckte ihre Verärgerung herunter. Es war wirklich besser, sich gefügig zu geben. Je mehr sie sich gegen die Pläne des Senhor Raúl sträubte, desto mehr würde sie ihn ja in seinem Glauben bestärken, sie sei eine Betrügerin oder gar eine Mörderin. Sie lächelte ihn freundlich an.
Er lächelte zurück. Nicht freundlich, sondern eher mit einem Hauch von Spott oder Überheblichkeit. Es stand ihm gut.
Einen Moment verharrten sie so, schweigend, sich im Blick des anderen verlierend. Die Geräusche, die aus dem Hausflur ins Arbeitszimmer drangen, klangen wie aus weiter Ferne. Die Luft in dem Raum schien zu knistern. Klara verstand nicht recht, was passiert war. Für ein paar Sekunden hatte sie geglaubt, in Raúls Augen etwas erkannt zu haben, was sie bisher nie wahrgenommen hatte. Begierde vielleicht.
Dann lösten sie die Blicke voneinander. Plötzliches Unbehagen machte sich in der Stille des Raums breit. Klara stand auf und wandte Raúl ihren Rücken zu. In dem Versuch, von der peinlichen Situation abzulenken, ging sie zu dem Bücherregal, das die ganze linke Wand des Raums ausfüllte, und griff nach einem Bilderrahmen, der dort einen Ehrenplatz einnahm.
»Deixa!«, blaffte er sie an.
Sein Ton war unmissverständlich. Klara stellte den Rahmen wieder an seinen Platz. Hatte sie zunächst nur Interesse daran vorgetäuscht, um ihre Beklommenheit zu überspielen, so war sie nun neugierig geworden. Wer waren die Leute auf der Zeichnung? Seine Eltern? Plötzlich ging ihr auf, wie wenig sie über den Mann wusste, dem sie ihr Leben verdankte. Sie würde bei Gelegenheit einmal Teresa ausfragen, die konnte ihr sicher alles genauestens erzählen. Doch dann hörte sie leise Raúls Stimme hinter sich. Er war zu ihr herangetreten und nahm jetzt den Rahmen in die Hand.
»
Foram os meus pais
– das waren meine Eltern. Sie sind bei einem Brand ums Leben gekommen. Diese Zeichnung war nur die Skizze eines Malers, der von ihnen ein großes Gemälde anfertigen sollte. Das Gemälde wurde nie vollendet, die Skizze ist die einzige Abbildung, die ich von ihnen habe. Sie ist den Flammen nicht zum Opfer gefallen, weil sie sich im Haus des Malers befand. Er hat sie mir geschenkt.«
Klara war feinfühlig genug, diese ungewohnte Redelust nicht durch Blättern in ihrem Wörterbuch zu stören. Sie verstand auch so genug.
»
Hoje o artista é uma celebridade . Seine Gemälde erzielen astronomische Preise.« Er lachte bitter auf. »Diese Skizze ist ein kleines Vermögen wert, man hat mir schon mehrfach sehr viel Geld dafür geboten. Mas obviamente ela não está à venda. «
Klara schwieg. Sie hatte so gut wie nichts begriffen, aber der traurige Tonfall stimmte sie nachdenklich. Verbarg sich hinter der stachligen Schale dieses Mannes, den sie bei sich immer nur »den Finsterling« genannt hatte, etwa ein weicher Kern?
»O pior é«, fuhr Raúl fort, »dass ich mir ihre echten Gesichter gar nicht mehr in Erinnerung rufen kann. Wenn ich an sie denke, sehe ich immer nur diese Skizze vor Augen, diese für den Maler aufgesetzte, arrogante Pose. So waren sie nicht. Aber wie sie stattdessen waren, weiß ich auch nicht mehr.«
Klara hätte Gott weiß was dafür gegeben, wenn sie ihn verstanden hätte. Aber sie wusste auch, dass sie, wäre sie seiner Sprache mächtig gewesen, niemals in den Genuss dieses persönlichen Geständnisses gekommen wäre. Und
dass
er eine Art Beichte abgelegt hatte, entnahm sie dem Ton. Wahrscheinlich war der arme Mann froh, dass er endlich einmal loswurde, was ihn bedrückte, ohne sich eine Blöße geben zu müssen, und dass er sich jemandem anvertrauen konnte, der ihn für diese vermeintliche Weichlichkeit
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