Das Mädchen am Rio Paraíso
nicht für einen Schwächling hielt. Darin schienen die brasilianischen Männer sich ja kaum von den deutschen zu unterscheiden, dass sie immerzu darauf bedacht waren, stark und heldenhaft zu wirken, um welchen Preis auch immer.
»Ach, das alles liegt Jahre zurück«, sagte Raúl nun, auf einmal wieder ganz der Alte. Er stellte den Rahmen in das Regal zurück. »Bleiben wir lieber in der Gegenwart.« Er sah auf seine Taschenuhr. »Es ist noch früh am Tag. Wir könnten jetzt sofort in die Stadt fahren – zweimal am Tag nach Porto Alegre, das habe ich bisher auch noch nicht geschafft – und meinen alten Freund aufsuchen. Wenn du nicht mitkommen willst, soll es mir auch recht sein. Aber nicht, dass du wieder eine so unbedachte Flucht antrittst. Langsam habe ich genug davon, dich ständig retten zu müssen.«
Klara bedachte ihn mit einem Blick, aus dem deutlich hervorging, dass sie nichts von alldem verstanden hatte. Er erklärte es ihr in einfacheren Worten und fasste schließlich zusammen: »Heute bleibst du hier. Du packst. Morgen fahren wir nach São Leopoldo.«
Sie warf ihm ein strahlendes Lächeln zu, eines von der Sorte, wie Josefina sie unentwegt zustande brachte. Du lieber Himmel, dachte Raúl, Josefina! Ja, es wäre eindeutig besser, ohne Klara in die Stadt zu fahren.
Der Redakteur Paulo Inácio da Silva war vertieft in einen Artikel über die Unabhängigkeitsbestrebungen Uruguays sowie die schwelenden Unruheherde an den Grenzen zu Argentinien und Paraguay. Er musste den Text bis Sonnenuntergang fertig haben, damit er es in die morgige Ausgabe schaffte. Der Besuch seines alten Schulfreundes kam ihm demnach mehr als ungelegen. Dennoch ließ er sich seine Unruhe nicht anmerken. Raúl hatte ihm schon mehrfach aus der Patsche geholfen, und Paulo Inácio war froh über jede sich ihm bietende Gelegenheit, seinen Dank zum Ausdruck zu bringen.
»Lass mal sehen.« Er griff nach dem Zeitungsausschnitt, den Raúl mitgebracht hatte. »Ah, das muss Alves da Costa geschrieben haben. Er ist zuständig für die Provinzpossen.«
Raúl war versucht, diese Wortwahl zu kritisieren, ließ es jedoch bleiben. Zu viel Engagement wollte er nicht an den Tag legen. Es musste ja nicht jeder wissen, was hinter seinem Interesse für diese Geschichte steckte.
Aber Paulo Inácio, dessen natürliche Neugier schon immer sein herausragendes Charakterkennzeichen gewesen war, hakte natürlich nach.
»Was hast du denn mit dieser Sache zu schaffen? Seit wann steckst du deine Nase in die Angelegenheiten der Kolonisten?«
»Seit ich die Bekanntschaft einer Dame gemacht habe, die am Rande in diese Geschehnisse verwickelt ist. Und um die Antwort auf deine nächste Frage gleich vorwegzunehmen: Nein, es ist nicht, was du denkst. Sie ist eine Witwe.« Dabei rümpfte er abfällig die Nase. Mit dieser Aussage mochte der Redakteur nun anfangen, was er wollte. Er, Raúl, jedenfalls hatte die Wahrheit gesagt.
Paulo Inácio wusste, wann es besser war, nicht weiter in seinen Freund zu dringen. Wenn Raúl reden wollte, würde er es beizeiten tun. Wenn nicht, dann war es auch nicht möglich, etwas aus ihm herauszukitzeln. Der Mann konnte verbohrt sein wie ein Esel.
»Na schön. Dann lass uns doch schnell zu dem alten Alves rübergehen. Der freut sich, wenn sich mal einer für seine belanglosen Stückchen interessiert.«
Dass die Bezeichnung »belangloses Stückchen« nicht unbedingt zutreffend war, behielt Raúl ebenso für sich wie seine Erleichterung, als Paulo Inácio ihn mit dem älteren Kollegen allein ließ. »Nimm’s mir nicht übel, altes Haus, ich bin höllisch unter Zeitdruck. Aber wenn du hier fertig bist, komm doch noch bei mir vorbei.«
Der Redakteur Alves da Costa war überaus hilfsbereit. Es war, wie Paulo Inácio prophezeit hatte: Der Mann war sichtlich erfreut darüber, dass sich jemand für ihn und insbesondere diese Kolonisten-Geschichte interessierte, die er aufwendig recherchiert hatte und die ihm dann von seinem Chefredakteur so schamlos zusammengekürzt worden war, dass kaum mehr der eigentliche Sachverhalt daraus hervorging.
»Wer fragt heute noch nach den Hintergründen? Alle wollen nur die blutrünstigen Schlagzeilen«, beklagte er sich. »Skandale will der Chefredakteur, Skandale! Dass der eigentliche Skandal darin liegt, dass wir uns hungernde Bauern aus dem Ausland holen, damit sie unser Land urbar machen und die grenznahen Regionen bevölkern, das will niemand hören. Zu wenig Blut. Als Gegenleistung dafür,
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