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Das Mädchen am Rio Paraíso

Das Mädchen am Rio Paraíso

Titel: Das Mädchen am Rio Paraíso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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dass sie ohne ihr Wissen wie ein Schutzschild gegen die Aggressionen der Argentinier eingesetzt werden, gibt man ihnen ein Stück wertloses Land und eine Kuh. Das ist kriminell, mein lieber Senhor Almeida, kriminell!«
    Raúl nickte bedächtig. Er hatte zwar nicht die geringste Lust, sich einen Monolog über die Grenzpolitik anzuhören, mochte den Mann aber auch nicht brüskieren. Wer wusste schon, was der missverstandene Redakteur noch alles zu berichten hatte?
    »Man lockt diese Leute mit allen möglichen Versprechungen ins Land. Man gibt ihnen ihre Kuh, ein bisschen Federvieh, eine Parzelle im Urwald. Und dann überlässt man sie ihrem Schicksal. Da draußen in der Colônia herrschen Zustände, das kann man sich gar nicht vorstellen. Diese Leute haben zuvor in ihrem Leben noch keine Banane, keine Kobra und kein Gürteltier gesehen. Sie sind starr vor Angst, weil sie unsere Flora und Fauna nicht kennen. Und keiner bringt sie ihnen nahe. Die werden einfach drauf losgelassen, um es salopp auszudrücken, und die armen Teufel sind so verzweifelt, dass sie auch noch dankbar dafür sind. Unter den gegebenen Umständen schlagen sie sich sogar ganz wacker, das muss man ihnen lassen. Aber ihnen bleibt ja auch nichts anderes übrig, als das Beste draus zu machen, nicht wahr? Zurück können sie nicht. Und die, die diese entsetzliche Schiffsreise halbwegs intakt überstanden haben, sind meist jung und gesund und haben noch Träume.«
    Raúl räusperte sich. Die Ausführungen von Alves da Costa waren sehr lehrreich, und seine Kritik entbehrte sicher nicht einer gewissen Berechtigung. Dennoch wollte Raúl allmählich gern mehr über das in der Überschrift des Artikels so bezeichnete »mysteriöse Verbrechen« hören, dessentwegen er gekommen war.
    »Dies alles schicke ich voraus, damit Sie den Hintergrund verstehen, vor dem sich dieses Drama abgespielt hat«, sagte der Redakteur, der Raúls Räuspern ganz richtig interpretiert hatte. »Was Sie ebenfalls wissen sollten, ist, dass an den Ufern des Rio dos Sinos verschiedene Indio-Stämme leben. Sie sind friedfertig. Sie freuen sich sogar über die neuen Nachbarn. Sie betrachten sie als eine Art Belustigung. Sie beobachten sie und amüsieren sich über ihre Sitten. Aber unsere eigene, wenig ruhmreiche Vergangenheit hat uns gezeigt, dass auch die freundlichsten Völker sich zur Wehr setzen, wenn man sie nur lange genug quält, vertreibt, versklavt oder auf andere Weise demütigt. Die paar hundert Kolonisten stören niemanden. Doch wenn wir unsere Einwanderungspolitik so fortführen und wenn Europa durch weitere Kriege oder Hungersnöte weiter im Elend versinkt, dann werden eines Tages Tausende kommen, Zehntausende. Und dann werden die Indianer von ihrem angestammten Land weichen müssen.«
    Er hielt kurz inne, als er Raúls leicht angespannten Gesichtsausdruck wahrnahm. »Ja, ja, Sie haben recht. Entschuldigen Sie, es ist wieder mit mir durchgegangen. Also, Tatsache ist, dass die Indios bisher niemanden dort tätlich angegriffen haben. Die Theorie von dem Indianerüberfall stammt nicht von mir. Ich distanziere mich sogar ausdrücklich davon. Manchmal bekomme ich Sätze in meine Artikel hineinredigiert, die … aber redaktionsinterne Probleme will ich Ihnen nun wirklich keine schildern.«
    »Was ist da draußen passiert?«, wagte Raúl sich zu Wort zu melden. »Ich meine: Was glauben
Sie,
was geschehen ist?«
    »Es gibt meiner Meinung nach nur zwei Möglichkeiten. Erstens: Die Frau hat ihren Mann umgebracht und ist geflohen. Zweitens: Jemand anders – vielleicht ein Nachbar, der die Familie Wagner hasste, vielleicht ein Zechkumpan des getöteten Mannes – hat das Ehepaar ermordet. Die Leiche der Frau könnte in den Bach gefallen und fortgeschwemmt worden sein.«
    »Und warum haben Sie das so nicht geschrieben beziehungsweise nicht schreiben dürfen?«
    »Weil wir die Kolonisten nett zu behandeln haben, auch und gerade in der Presse. Weisung von ganz oben. Unser Chefredakteur und der Gouverneur der Provinz Rio Grande do Sul sind … aber lassen wir das. Dona Leopoldina will sich nicht allein auf die Werber verlassen, die überall in Europa nach Auswanderungswilligen Ausschau halten. Eine kluge Frau hat unser Kaiser sich da genommen, ja wirklich, sie ist raffiniert. Sie kann sich nämlich ausrechnen, was passiert, wenn wir, die portugiesischstämmigen Brasilianer, die neuen Siedler nicht freundlich behandeln.«
    Er holte tief Luft, bevor er seine Ausführungen fortsetzte.

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