Das Mädchen am Rio Paraíso
»Also angenommen, in der Zeitung stünde etwas über einen Mord unter den Kolonisten. Dann würden doch Ihre Frau Mama oder meine liebe Gattin oder der nette Doutor Silveira von nebenan gleich denken: ›Schlimmes Gesindel, das!‹ Und sie würden ihre Ressentiments dann natürlich im Umgang mit den Kolonisten zeigen, vielleicht unwillentlich, aber sie würden die Einwanderer immer von oben herab behandeln. Wie armes Lumpenpack eben, das sich gerne gegenseitig umbringen soll. Dann wiederum würden die Siedler sich hier alles andere als willkommen fühlen. Und deren Beitrag zur Werbung von weiteren Einwanderern ist nicht zu unterschätzen. Sie schreiben Briefe in die Heimat. Aber nun stellen Sie sich vor, wenn in diesen Briefen stünde, wie schlecht es den Leuten hier ergeht. Damit wären alle anderen Werbemaßnahmen null und nichtig.« Alves da Costa sah Raúl mit einem triumphierenden Lächeln an, sichtlich stolz darauf, seine Theorie zur Einwanderungspolitik einem Laien so anschaulich erläutert zu haben.
»Das leuchtet mir ein«, brachte Raúl lahm hervor. Er war wie betäubt von der Flut an Informationen – wichtigen und unwichtigen, wahren oder unwahren –, die da über ihn hereingebrochen war. Schließlich gab er sich einen Ruck und stellte die Fragen, die ihm am meisten auf den Nägeln brannten: »Waren Sie am Schauplatz des Verbrechens? Haben Sie mit Zeugen gesprochen? Gibt es Details, die Ihre Theorie stützen, es handele sich um einen Mord unter den Kolonisten?«
»Ja, ich war dort. Zeugen hat es keine gegeben, sonst wüsste man ja, was genau sich zugetragen hat. Aber es gab da eine Frau, eine Freundin der Familie, die auch das Kind bei sich aufgenommen hat, mit der ich gesprochen habe. Das heißt, wir haben uns mehr durch Zeichensprache miteinander verständigt, denn die Frau konnte außer ›obrigada‹ nichts auf Portugiesisch sagen. Diese Kolonistin also hat den Toten gefunden. Sie hat mir beschrieben, wie er zugerichtet war. Mein Gott, der arme Mann! Er hatte nur noch ein Bein, wussten Sie das?«
Raúl schüttelte den Kopf. Nein, das hatte er nicht gewusst. Es gab anscheinend jede Menge Dinge, die Klara ihm noch nicht berichtet hatte.
»Diese Frau also beschrieb mir die verschwundene Frau des Toten als ein wenig verwirrt. Insofern könnte es gut sein, dass die Verschollene die Täterin war. Aber Sie wissen ja, wie es ist: Diese Einwanderer halten zusammen wie Pech und Schwefel, niemals würden sie einem Außenstehenden Dinge erzählen, die einen von ihnen ernstlich belasten könnten. Da war es doch viel einfacher, die Indianer zum Sündenbock zu machen.«
Raúl nickte. Er fand die Aussage der Nachbarin, Klara sei »ein wenig verwirrt«, durchaus belastend.
»Und natürlich habe ich mich mit dem Beamten unterhalten, der den Fall bearbeitet, wenngleich von einer ordnungsgemäßen Untersuchung keine Rede sein kann. Er beschrieb mir, wie der einbeinige Kolonist zu Tode kam, nämlich durch einen Schlag auf den Kopf, wie es ja auch in meinem Artikel steht. Dieser Schlag wurde von hinten links ausgeführt. Mehr wollte er dazu nicht sagen.«
»Scheußliche Sache«, warf Raúl ein.
»Ja, wirklich schlimm«, stimmte Alves da Costa zu. »Aber«, fiel ihm plötzlich ein, »wieso interessieren Sie sich eigentlich so dafür? Und warum jetzt? Das Ganze liegt schon Wochen zurück.«
»Weil ich die Bekanntschaft einer Dame gemacht habe, einer Witwe, die aus der Colônia kommt und deren Darstellung der Ereignisse mich stutzig machte.«
»Aha?«, meinte der Redakteur. »Das müssen Sie mir genauer erklären. Vielleicht ergeben sich da auch für meine Arbeit ganz neue Perspektiven.«
»Liebend gern, mein lieber Senhor Alves da Costa. Ich fürchte nur«, damit warf Raúl einen bedauernden Blick auf seine Taschenuhr, »dass wir uns das für ein anderes Mal aufsparen müssen. Ich habe noch eine Verabredung und bin schon viel zu spät dran. Aber es hat ja keine Eile, nicht wahr? Ich verspreche Ihnen, dass ich mich melde, wenn ich wieder in der Stadt bin.«
»Aber gerne, jederzeit.«
»Herzlichen Dank für die Zeit, die Sie sich genommen haben. Auf Wiedersehen. Und einen wunderschönen Tag noch.«
»Auf Wiedersehen!«, rief Alves da Costa, aber da war Raúl bereits auf dem Flur.
Er ging an dem Büro vorbei, in dem neben Paulo Inácio noch mehrere Männer fieberhaft schrieben. Sein Freund war derart vertieft in seine Arbeit, dass Raúl nicht wagte, ihn darin zu unterbrechen.
Ohne einen Abschiedsgruß und
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